Elmar M. Lorey
Der kurmainzische Rheingau zur Zeit der Hexenverfolgung
Ein riskantes Asyl

Von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, so sahen es die Menschen in ihrer Mehrzahl, sind die Hexen überall. Es ist die Kernzeit der massenhaften Hexenverfolgung im alten Reich und das Fieber erfaßte besonders gerne die kleineren Herrschaftsgebiete. Der Rheingau, der schmale zum Mainzer Kurstift gehörende Rheinuferstreifen zwischen Wiesbaden und Lorch, (siehe Karte am Seitenende) den sich die Erzbischöfe Anfang des 14. Jahrhunderts wegen der aufsässigen Mainzer Bürger über fast 200 Jahre hinweg zur Residenz (Eltville) erwählten, scheint jedoch zur überschaubaren Zahl von Ausnahmen zu gehören, für die sich bis heute so gut wie keine Verfolgungsopfer nachweisen lassen. Ja mehr noch. In den erhaltenen Hexenprozeßakten, darunter vor allem in dem umfangreichen Aktenkonvolut des Hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden, finden sich Hinweise darauf, daß schon zur Zeit der Verfolgung selbst die Vorstellung in den umliegenden Herrschaften verbreitet scheint, dieses kleine Gebiet könne jenen zur Rettungsinsel werden, die andernorts unter Hexereiverdacht geraten waren.
Der Rheingau ein Fluchtort für Hexen?

Eltviller MartinsturmIn den ersten Oktobertagen des Jahres 1629 herrscht unter den Bürgern in Eltville, dem rheingauischen Zentrum, helle Aufregung. In der Stadt hatte sich herumgesprochen, daß gerade ein Mann inhaftiert worden war, der als gefährlicher Hexenmeister galt. Aus dem Rathaus, wo ihn gut ein Dutzend schwer bewaffneter Bürger in der ersten Nacht bewacht hatten, wurde der Häftling dann in den Martinsturm gebracht, eine der Befestigungsanlagen in der Stadtmauer am Rheinufer, die bis zur kurfürstlichen Burg reicht. Zu dieser Zeit dient dieser Turm noch als Stadtgefängnis, ehe die Herren von Eltz ihn erwerben, um ihn für frömmere Zwecke zu nutzen. Sie machen ihn zu ihrer Hauskapelle.

Der Mann ist ein Ortsfremder und stammt aus dem Dillenburgischen. (1) Zwei Kundschafter des Nassau-Dillenburger Grafen Ludwig Henrich hatten den Delinquenten bei einem Winzer aufgespürt, wo er sich ein paar Tage zuvor für die Arbeiten im Keller und bei den Vorbereitungen zur Weinlese verdingt hatte. Georg Reiß und Johannes Best, die den Mann aufgestöbert und sogleich seine Festnahme durch die Eltviller Obrigkeit veranlaßt hatten, sind „Hexenjäger" aus dem nassauischen Amt Driedorf und sie hatten sich freiwillig um den Auftrag beworben, den Spuren des flüchtigen Angeklagten nachzuforschen und ihn „niederzuwerfen".

Von nassauischen Beamten in Driedorf und im nur wenige Kilometer entfernten Herborn mit entsprechenden Papieren, Auslieferungsersuchen und Geld ausgestattet, können die beiden Männer den Nachweis führen, daß gegen den Häftling, einen Hirten aus dem westerwälder Dorf Hohenroth mit Namen Henrich Schäfer, im zuständigen Amt Driedorf ein Prozeß wegen Hexerei anhängig war. Der Delinquent, so berichten sie, habe sich, nachdem er von der Anklage Kenntnis erhalten hatte, einfach aus dem Staube gemacht. Sein Fluchtplan, „nach dem Rhein zu gehen", war durch seine Ehefrau bekannt geworden, die statt seiner sogleich „gefänglich eingezogen" und verhört worden war.

Nach ihrem Jagderfolg indes stehen die beiden Driedorfer Hexenjägern Reiß und Best vor einigen Schwierigkeiten. Einerseits müssen sie in Abstimmung mit den kurmainzischen Behörden im Rheingau den sicheren Rücktransport des Gefangen vorbereiten. Zum anderen sind sie gezwungen, den Driedorfer Amtskeller in Begleitung einer militärischen Eskorte abzuwarten, was einige Tage dauern konnte. Bis dahin hatten sie auf eigene Verantwortung die sichere Bewachung des Gefangenen zu garantieren. Denn erst nach Ankunft des mit entsprechenden hoheitlichen Kompetenzen ausgestatteten nassauischen Beamten konnte man es wagen, den Delinquenten ohne diplomatische Verwicklungen mit den anderen kleinen Landesherrschaften, deren Gebiete auf dem Rückweg nach Herborn durchquert werden mußten, sicher vor seine Richter zu transportieren.

In dieser Zeit war der Fluchtversuch eines Menschen, den man der Hexerei beschuldigte, nicht ungewöhnlich. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der heute bekannten Verfahren ist die Häufigkeit solcher Fluchtversuche allerdings eher gering. Und das hatte seine Gründe. Viele Regionen werden von regelrechten Verfolgungswellen heimgesucht und erscheinen kaum als verlockende Fluchtorte. Zudem haben die Zeitumstände die Menschen überaus argwöhnisch gegenüber jedem Fremden gemacht. Angesichts der Wirren des Dreißigjährigen Krieges und einer überwachen Obrigkeit haben die Flüchtigen - wie wir im folgenden noch sehen werden - kaum eine wirkliche Chance, unentdeckt zu bleiben. Hinzu kommt, daß eine Flucht von den Gerichten stets als unzweifelhafter Schuldbeweis gewertet wird, der den tödlichen Ausgang des Verfahrens nur noch beschleunigt, wenn sie denn nicht erfolgreich war.

Deshalb, so scheint es, greifen nur sehr entschlossene Menschen zu diesem Mittel. Sei es, weil sie nicht allein von ihrer Unschuld überzeugt sind, sondern die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkennen, sich in seinem solchen Verfahren überhaupt wirksam verteidigen zu können. Oder sei es, weil sie hoffen, zumindest für eine Zeit an einem für sicher gehaltenen Ort unterzutauchen, bis sich die Verfolgungswut, die manche Orte wie Fieberanfälle überfiel, wieder gelegt hatte. Schließlich gibt es auch Verdächtigte, die sich zur Flucht entschließen, weil sie das Leben eines Ausgestoßenen weniger fürchteten als die meist erbarmungslos geführten Prozesse, deren Zeuge sie schon geworden waren. Flucht, das bedeutet unter härtesten Bedingungen überleben zu müssen, womöglich abseits jeglicher Zivilisation und mit nur geringer Chance, jemals wieder in die Rechtsgemeinschaft zurückkehren zu können.

Der in Eltville inhaftierte Henrich Schäfer kannte die harten Erfahrungen eines einsamen Hirtenlebens, gehörte sein Beruf doch zum niedrigsten und ärmlichsten, was diese Gesellschaft an Tätigkeiten zu vergeben hatte. In seiner Heimat, dem Westerwald, verbrachte er seine Zeit zumeist auf den weit abgelegenen Weiden und in den Wäldern, in die sich niemand ohne Not, vor allem nie alleine und ohne Bewaffnung wagte. Erstaunlicherweise scheint Henrich Schäfer auch nach der Verhaftung in Eltville seine Lage noch nicht als ganz ausweglos einzuschätzen. Nach der ersten Nacht im Rathaus verlangt er nachdrücklich und scheinbar mit ungebrochenem Selbstvertrauen so lange auf eigene Kosten in einem anständigen Wirtshaus untergebracht zu werden, bis in „seiner Sache rechtmäßig entschieden" sei. Doch die Driedorfer Hexenjäger bestehen auf seiner Unterbringung im sicheren Martinsturm, nicht zuletzt weil die Eltviller Bürger, die sie zur Bewachung haben anwerben müssen, „in größter Forcht gegen den Gefangenen stehen", wie sie in einem eiligen Brief an den zuständigen Amtskeller Daniel Dilp nach Driedorf berichten. Nur mit großzügigen Brandweinspenden hatten sie sich zu dieser Aufgabe überreden lassen.

Das Ende dieses Falles ist im übrigen schnell erzählt. Henrich Schäfer, dem Hirten aus dem Westerwald, brachte die Flucht in den Rheingau nicht die erhoffte Rettung. Seine Geschichte endet wie die meisten Hexereiprozesse seiner Zeit. Schon wenige Tage nach seiner Gefangennahme wird er, mit Ketten fest auf einen Karren geschmiedet, unter militärischem Begleitschutz nach Herborn gebracht und dort am 30. Oktober 1629 im Zuge einer der zahlreichen Hexenbrände zusammen mit einem Hirtenkollegen und sieben Frauen hingerichtet. (2) Was im Zusammenhang unserer Fragestellung bemerkenswert erscheint, ist die auffällige Besorgtheit der beiden Hexenjäger. Sie richtet sich weniger auf den Gefangenen selbst, als vielmehr auf die verheerende Wirkung, die er auf die Rheingauer Bürger auszuüben scheint. Die Zeichen von Furcht und Beunruhigung unter der Eltvillern, wie sie aus den Akten dieses Verfahrens herauszuhören sind, verlangen nach Erklärung, denn dieser Sachverhalt ist ungewöhnlicher als es auf den ersten Blick erscheint.

Woher die Besorgnis?

Worin lag die Ursache für die große Besorgnis und Angst, die sich angesichts dieses Gefangenen unter den Eltviller Bürgern verbreitet hatte? War es wirklich die Tatsache, daß man den gefangenen Hirten für einen hexerischen Werwolf hielt, was sich als Gerücht zweifellos schnell in der Stadt verbreitet hatte? Dabei handelte es sich gewissermaßen um einen Sonderfall im Gesamtbild der gelehrten Hexentheorie, wie sie mittlerweile aus der Welt der Theologen und Juristen in die Vorstellungswelt der Menschen eingedrungen war. (3) Mit einem als Werwolf beschuldigten Mann stand man einem Menschen gegenüber, der über die - damals weithin unbezweifelte - Fähigkeit verfügte, sich mit zauberischen Mitteln und auf Grund eines Bündnisses mit dem Satan, unversehens in ein reißendes Tier zu verwandeln, das in höchstem Maße gefährlich werden konnte. Von einigen magischen Hilfsmitteln abgesehen, gab es kaum Möglichkeiten einer wirksamen Gegenwehr. Wie die Hexen sich nach der gängigen Theorie mit Hilfe des Teufels in Katzen und andere Tiere zu verwandeln vermochten, wurden vorwiegend Männer mit dem Vorwurf konfrontiert, in dieser unberechenbaren Wolfsgestalt Schaden gestiftet zu haben. Unsere beiden Hexenjäger aus Driedorf jedenfalls scheint dieser Sachverhalt nicht von ihrer freiwilligen Bewerbung abgeschreckt zu haben. In ihrer Region gehörte diese Erzählfigur zum allgemeinen Repertoire, und Fälle dieser Hexereivariante waren vor den Gerichten dort schon verhandelt worden.

Diese Vorstellung vom Werwolf war jedoch regional unterschiedlich stark verbreitet und ist - im Gegensatz zur näheren und weiteren Nachbarschaft - für den Rheingau bisher nicht belegt. Es stellt sich also die Frage, ob der Grund für die Furchtsamkeit der Eltviller nicht doch eher darin zu suchen ist, daß die Menschen im Rheingau über keine, oder, wenn überhaupt, nur über geringe Erfahrung im Umgang mit Hexen, Hexenmeistern und all den praktischen Begleiterscheinungen verfügten, die mit den Hexenprozessen verbunden waren? Seit Ende des 16. Jahrhunderts waren solche Verfahren vielerorts zur Alltäglichkeit geworden. Zumeist waren sie mit einer eigenen Dynamik verbunden, die nachhaltig in den Alltag und das Zusammenleben der Menschen eingriff. Es begann mit Gerüchten, Verdächtigungen und Verhaftungen, setzte sich in den Folgeverhaftungen im Dorf fort und fand häufig auch nach dem spektakulären Endritual, dem öffentlichen Hochgericht mit Hinrichtung und Verbrennung noch nicht sein Ende. Meist waren die Prozesse Begleit- und Folgeerscheinung von Unwettern, Ernteschäden, Mißwachs und anderen Naturkatastrophen, deren Verursachung man in einer Art allgemeiner Verschwörungstheorie den Angeklagten zur Last legte. Die Annahme scheint nicht ganz unberechtigt, daß die Rheingauer in dieser Praxis eher unerfahren waren. Vielleicht auch wegen der außerordentlich günstigen geographischen Lage des Landstrichs am Nordufer des Rheines, für den zwar manches schwache oder auch erbärmliche Weinjahr, aber kaum ernsthafte klimatische Katastrophen bezeugt sind.

Ganz unwissend in Hexendingen konnten die Menschen in diesem Landstrich freilich nicht sein. In den Jahrzehnten vor, während und nach dem Dreißigjährigen Krieg sahen sie die Scheiterhaufen nahezu überall vor ihrer Haustüre brennen. Die Rauchsäulen erhoben sich beispielsweise in Bodenheim (1612-1617), in Mombach (1613-1614), in Hechtsheim (1614), in Flörsheim (1616-1618) und in Höchst (1617). Noch 1676 brannten die Feuer in der nassauischen Nachbarschaft, zu Füßen des Idsteiner Schlosses, wo sich vor den Richtern des Grafen Johannes neben zahlreichen Wiesbadener und Idsteiner Bürgern gar einige Kinder aus Biebrich samt Mutter und Großmutter gegen den Vorwurf der Hexerei zu verantworten hatten. (4)

Darüber hinaus gehörte das Hexenthema zum Lieblingsstoff der Prediger und es kursierten aller Orten Flugblätter und mündliche Berichte, die wie begehrte Waren gehandelt wurden. Zudem muß das Kurfürstentum Mainz, zum dem der Rheingau gehörte, gerade für die Jahre von 1627 bis 1630 zu einem der verfolgungsintensivsten Gebieten gerechnet werden. Allein bei den "Weltlichen Räten" in Mainz, einer Behörde, die alle Prozesse im Erzstift zu beaufsichtigen hatte, sind in diesem Zeitraum rund 1.000 Verfahren wegen Hexerei und zauberischer Umtriebe anhängig. In der Stadt selbst wurde allerdings nie eine Hexe verbrannt. Zumindest hat sich aus den vorhandenen Quellen ein solcher Fall bisher nicht nachweisen lassen.

Andererseits stellt sich die Frage, was Menschen wie den Hohenrother Hirten Henrich Schäfer bewogen haben konnte, ausgerechnet in den Rheingau zu flüchten? Zur Beantwortung dieser Frage sind seine Prozeßakten leider unergiebig. Wir erfahren nichts über die Motive, die zur Wahl dieses Fluchtortes geführt haben. Auch der Weg, auf dem er sein Ziel erreichte, läßt sich aus den Prozeßakten ebensowenig rekonstruieren wie die Mittel, die er angewendet haben mußte, um das zu dieser Zeit sehr gut bewachte Gebück, eine von Walluf über die Taunusberge bis nach Lorchhausen reichende Grenzbefestigung, zu überwinden. Der Rheingau galt allerdings schon seit dem 16. Jahrhundert als traditionelles Ziel nassauischer und westerwälder Arbeitsmigranten. (5) Geschah die Wahl also nur einer Gewohnheit folgend, wie sie etwa durch einen Weilburger Hexenprozeß aus dem Jahre 1658 belegt ist? Dort hatte einer der drei beklagten Männer ebenfalls eingeräumt, sich im Rheingau verdingt zu haben. Daß er abstritt, weder zu hause noch dort mit hexerischen Mitteln Menschen umgebracht zu haben, rettete sein Leben freilich nicht. (6)

Weitere Flüchtlinge

FluchtDie Flucht des nassauischen Hirten Henrich Schäfer in den Rheingau ist kein Einzelfall. Aus der kleinen benachbarten Grafschaft Hessen-Homburg (heute Homburg vor der Höhe) flieht 1653 eine der Hexerei beschuldigte Frau ebenfalls in den Rheingau. Die Becker Anna, wie die Ehefrau des Reitz Schweinhard aus Seulberg (heute Stadtteil von Friedrichsdorf) zumeist in den Akten genannt wird, (7) ist eines der 69 Opfer einer Prozeßwelle, die zwischen den Jahren 1652 bis 1656 das kleine Herrschaftsgebiet erschüttert. Wie in Idstein war das Verhängnis von fabulierenden Kindern ausgelöst worden, die man schließlich zu Kronzeugen für eine teuflische Verschwörung in der kleinen Grafschaft gemacht hatte. (8)

Wenige Tage nach ihrer Inhaftierung im Sommer des Jahres 1653 macht die Becker Anna ihren ersten Fluchtversuch. Aber schon im nur wenige Kilometer entfernten Rodheim (zu Herrschaft Hanau gehörig) wird sie von wachsamen Bürgern entdeckt und festgehalten. Nach komplizierten Grenzstreitigkeiten bringt man sie nach Homburg zurück und legt sie im Stadtturm in Ketten. Am 22. August 1653 flieht sie erneut und erreicht offensichtlich unbeschadet den Rheingau. In den Prozeßakten finden sich einige Stationen dieser Flucht, die die Becker Anna als ebenso umsichtige wie entschlossene Person kennzeichnen. Weil zwei Tage niemand nach ihr im Turm gesehen hatte, so erzählt sie später, habe sie einen Stein aus der Mauer gelöst und damit die Schlösser ihrer Kette zerschlagen. Dann habe sie ein paar Ziegeln vom Dach gehoben und sich an einem Seil, das sie aus dem in Streifen gerissenen „Leibtuch" geknotet hatte, herunter gelassen. Sie erinnert sich, daß der Nachtwächter gerade die zehnte Stunde blies, als sie über die Homburger Stadtmauer kletterte. Dann habe sie sich in einem Gebüsch versteckt, um neue Kräfte zu sammeln. Erst am Abend des folgenden Tages setzt die Becker Anna die Flucht fort und sucht sich ihren Weg über Niedereschbach bis in den Rheingau. Auch sie geht als Tagelöhnerin bei einem Winzer in Eltville in die Weinlese. Anschließend arbeitet sie als Magd bei einem Wirt. Niemand entdeckt sie.

Doch am 23. Oktober des Jahres ist sie wieder in Homburger Haft. In diesem Fall freilich hat die Becker Anna ihre Verfolger selbst auf die Spur geführt. Ohne ihre beiden Kinder, so erklärt sie, habe sie es in der Fremde nicht mehr ausgehalten. Heimlich war sie in ihr Haus nach Seulberg zurück gekehrt, das der Schultheiß vorsorglich Tag und Nacht hatte überwachen lassen. Auf die Frage, wo sie sich so lange aufgehalten habe, antwortet sie: „Zu Elfeld (=Eltville) im Rinekau habe sie im herbst helfen trauben leßen". Resigniert endet sie mit der Erklärung: „Ihre armen Kinder hetten es gemacht, welche sie gerne noch einmalen sehen mögen." Beide Fluchtversuche gelten als unbezweifelbarer Beweis ihrer Schuld. Unter diesen Umständen läßt die Becker Anna es zu einer Befragung unter der Folter erst gar nicht kommen. Sie gesteht und wird am 2. Dezember 1653 mit weiteren sieben Personen in Homburg mit dem Schwert gerichtet.

In den Akten dieser Homburger Verfahren von 1652 bis 1656 finden sich weitere Fluchtbeispiele, von denen man zumindest vermuten kann, daß ihr Ziel gleichfalls der Rheingau war. Am 11. Januar 1652 wird Johann Kitz, ebenfalls aus Seulberg und in den Akten meist nur der Trompeter genannt, verhaftet. (9) Wie die Becker Anna ist auch er durch die Kinder besagt worden. In der Nacht des 23. Januar 1652 gelingt es ihm, seine Ketten zu sprengen und aus dem Gefängnis zu entkommen. Beim Kirchhof übersteigt er die Homburger Stadtmauer und gelangt über Oberhain, durch das Weiltal, über die Ortschaften Heftrich und Oberjosbach schließlich bis an den Rhein bei Biebrich, direkt an die Grenze. Seine Absicht könnte gewesen sein, von hier aus und mit Hilfe von Komplizen oder gar über das Wasser in den Rheingau zu gelangen. Im Gegensatz zum weiteren Verlauf des Gebücks nach Norden und Westen, der meist durch den Taunuswald und mit nur wenigen Passagemöglichkeiten führte, gab es gerade an dieser östlichen Flanke der Landwehr zwischen Biebrich und Walluf und in der Nähe zum Rheinufer die Mehrzahl der offiziellen Durchlässe, um ins Landesinnere zu gelangen.

Aber auch diese Flucht mißlingt. Johann Kitz, der Trompeter, wird in Biebrich gefaßt und vor den Wiesbadener Amtmann gebracht, der ihn den Homburger Richtern ausliefert. Am 17. Februar wird er zusammen mit weiteren sieben Personen, darunter seine Frau Anna, (10) mit dem Schwert gerichtet und verbrannt. Wie häufig bei Verurteilten, noch mehr im Falle eines verurteilten Elternpaares, greift in diesem Fall das Erbschaftsstereotyp. Weil nach dem geläufigen Fahndungsbild die Hexen zwangsläufig ihre Kinder dem Satan zuführten, erbt auch die älteste Tochter Elise, Lieschen genannt, gewissermaßen den Hexereiverdacht und wird drei Jahre später, kaum 16jährig, als Hexe gerichtet. (11)

In der Zeit zwischen den beiden Verfahren gegen den Trompeter Johann Kitz (Januar 1652) und gegen die Becker Anna (Herbst 1653) finden wir einen weiteren Homburger Flüchtling vor den Toren des Rheingaus. Johann Kliz, fast namensgleich mit dem Trompeter, ist Schultheiß, stammt ebenfalls aus Seulberg und ist wie die anderen in die Homburger Prozeßmühle geraten. (12) Auch ihm gelingt im Januar 1653 die Flucht. Unter den wenigen erhaltenen Seiten seiner Prozeßakte finden wir sie bezeugt im Schreiben des Wiesbadener Amtmannes Friedrich Meinhard von Langeln. Am 27. Januar 1653 teilt der nassauische Beamte den Homburger Behörden mit, daß „der außgerissene Schultheiß Johann Kliz von Seulberg, der wegen Hexerey zu Homburg gefänglich in Hafft geweßen (   ) zu Bieberich in der Herrschafft Wiesbaden wieder erdappet worden. Derselbe also bald gefänglich anhero geführet" werde. Der Ausgang des Verfahrens, das nach den kargen Aktenresten noch bis in den August des gleichen Jahres 1653 geführt wird, bleibt unklar.

Tatsächlich spricht einiges dafür, daß mancherorts die Vorstellung verbreitet war, im Rheingau böte sich dem Flüchtling eine Überlebenschance. Wie anders wäre zu erklären, daß sich gleich drei Bürger aus dem Homburgischen zu einer Flucht in die Region entschließen, auch wenn diese sich in der Realität als nicht wirklich erfolgreich erweist. Daß sich die Becker Anna selbst und aus Sehnsucht nach ihren Kindern um den Erfolg ihrer Flucht brachte, zeigt immerhin, daß ein solcher Versuch erfolgversprechend war. Wie dem Hohenrother Hirten war es auch ihr gelungen, das Gebück zu überwinden und sich über acht Wochen hinweg im Rheingau unentdeckt aufzuhalten.

Die Vermutung, daß der Rheingau in der Tat als möglicher Asylort für Hexereiverfolgte galt, wird durch die Akten eines weiteren Prozesses erhärtet, der in der kurmainzischen Gemeinde Hofheim geführt wurde, die zum Amt Höchst gehörte. Wegen des Verdachtes der Hexerei wird am 6. August 1601 die Hofheimerin Anna Glitzen verhaftet. (13) Sie ist die Schwiegermutter des aus dem Rheingau stammenden Pfarrers von Weilbach. Sie wurde von zwei Frauen besagt, die selbst wegen Zauberei schon vor Gericht standen. Es handelt sich um die aus recht einfachen Verhältnissen stammende Eva Bender aus Kriftel und die eher wohlhabende Elisabeth Hongel, die in erster Ehe mit dem Hattersheimer Müller verheiratet war, weshalb sie in den Akten zumeist nur die Möllerin genannt wird. Ihre Vermögensverhältnisse werden unter anderem der Sache noch eine besondere Wendung geben. Unter der Folter hatten beide Frauen die Anna Glitzen jeweils als Mittäterin bei Teufelsbuhlschaften und Hexenritten genannt. Unter den Schäden, die bei diesen Verfahren von den Beklagten zumeist selbst als Beweise zu erbringen waren, gestanden beide, gemeinsam den Wein in Hofheim und auch das Obst und das Getreide verdorben zu haben. Es ist ein für diese Zeit recht typischer Prozeßverlauf, der sich wie in einer Kaskade erweitert. Unter der Folter nennt Eva Bender zuerst die Möllerin als Mittäterin, schließlich nennen beide unter erneuter Folter Anna Glitzen als Komplizin.

Als Anna Glitzen am 21. August 1601 mit den Aussagen der beiden Denunziantinnen konfrontiert wird, führt sie als Beweis ihrer Unschuld an: „Ihr Man, und (ihr) Eidam (ihr Schwiegersohn) der pfarher von Weilpach, hetten sie oft gemahnet, do sie sich (vor Verfolgung) nit sicher wuste, woelt der pfarher Ir in das ringkau In sein heimat helfen, dasselbst gute tag haben soelt, sie geantwort, wuste sich sicher."(14) Daß sie sich trotz guter familiärer Beziehungen eben nicht in den Rheingau abgesetzt habe, so argumentiert Anna Glitzen, beweise doch, wie stark sie selbst von ihrer eigenen Unschuld überzeugt sei. Daß der aus dem Rheingau stammende (protestantische) Schwiegersohn seine (katholische) Heimat als möglichen Asylort anrät, spiegelt offensichtlich die persönliche Kenntnis und Einschätzung eines geringeren Gefährdungspotentials. Ob Anna Glitzen der vorsorgliche Umzug ans Rheinufer, wie man in diesem Falle die Flucht umschreiben müßte, wirklich genutzt hätte, bleibt nach den oben geschilderten Beispielen allerdings dahingestellt.

In ihrem Falle endet das Verfahren ohnehin glimpflich. Da sie auch nach zweimaliger Folter ein Schuldgeständnis verweigert und ihre Richter sich tatsächlich an geltendes Recht halten, wird sie schließlich gegen Urfehde, der eidlichen Friedenspflicht mit Verzicht auf Rache, frei gelassen. Ihr Leben verdankt sie freilich kaum dem Hinweis auf den möglichen aber ungenutzten Fluchtort im Rheingau. Aus dem gefährlichen Strudel, den solche Prozesse in der Regel produzierten, konnte sie sich vor allem deshalb retten, weil eine ihrer Denunziantinnen, die wohlhabende Möllerin, sich nicht nur einen fachkundigen Rechtsbeistand leisten konnte, der das Gericht mit seinen geschliffenen lateinischen Schriftsätzen in heftige Schwierigkeiten brachte, sondern auch weil die Möllerin selbst unter der Folter erstaunliche Standhaftigkeit bewies. Sie widerrief in der abermaligen Folter nicht nur die Anschuldigung der Komplizenschaft gegen Anna Glitzen, sondern auch alle ihre eigenen vorherigen Geständnisse. Wie Anna Glitzen wird auch die Möllerin schließlich gegen Urfehde freigelassen.

Auch im Rheingau brennt es

Die angeführten Beispiele, vor allem das Verfahren gegen Anna Glitzen, scheinen zu belegen, daß unter der Rheingauer Bevölkerung die Neigung zur Hexenjagd wenig ausgeprägt war oder sogar ganz fehlte, und daß dieser Sachverhalt in der umliegenden Region nicht unbekannt geblieben war. Wahrsager und Heilerinnen, also Personen mit magischen Fähigkeiten, die zum Kreis der traditionellen Therapeuten gehörten, gab es auch im Rheingau. Man zog sie dort ebenso eifrig zu Rate wie anderswo. Wenn Mensch oder Tier krank wurden, wußten die Menschen sich gar nicht anders zu helfen, als zu den geläufigen Praktiken zu greifen und jene Frauen und Männer um Rat zu fragen, die in solches Wissen eingeweiht waren.

In Hattenheim etwa gab es einen „Zauberer und Wahrsager", der sich um die Jahrhundertwende in der Region größter Beliebtheit erfreute, wie der Biebricher Pfarrer Friedrich Weber in einem Visitationsprotokoll von 1594 beklagt. (15) Doch mit der gelehrten Hexentheorie gerieten gerade diese alten magischen Praktiken, die zum Lebensalltag aller gesellschaftlichen Schichten gehörten und bisher von Justiz und Kirche geduldet waren, in religiösen Verruf und unter kriminellen Verdacht. Durch das Modell vom Schadenzauber in Kombination mit dem Teufelspakt wurden sie zum zentralen Delikt des Hexereiverbrechens vor dem weltlichen Gericht verhandelt. Belege für eine Verfolgung solcher Personen, die jetzt dem besonderem Argwohn ihrer Mitmenschen ausgesetzt waren, scheinen aber für den Rheingau zu fehlen. Fehlen sie vielleicht nur deshalb, weil Prozeßakten verloren gingen, vernichtet oder gestohlen wurden?

Horst Gebhard, der die Prozesse des 17. Jahrhunderts im Mainzer Kurstift eingehend untersucht hat, (16) stieß im Staatsarchiv Würzburg auf ein Dokument der kurfürstlichen Regierung vom 8. Oktober 1793, in dem der Mainzer Kaufmann Jakob Kunz, wohnhaft in der Augustinerstraße, aufgefordert wird, ca. 30 entwendete Bücher und 112 Kriminal- und Finanzakten zurückzuerstatten. Zwei dieser Akten (Nr. 9 und Nr. 27) sollten Hexenprozesse in Lorch und Lorchhausen, zwei Orte am Westrand des Rheingaus, betreffen. (17) Diese gestohlenen Akten sind jedoch ebensowenig wieder aufgetaucht wie jene, die in diesen Jahren von der französischen Besatzung von Mainz nach Paris entführt wurden. Somit erschien es bisher kaum möglich, Art und Umfang dieser Verfahren, die in den Jahren 1627 und 1628 stattgefunden haben dürften, näher zu bestimmen. Die Vermutung jedoch, daß es in Lorch nicht allein Verfahren, sondern auch Hinrichtungen gegeben hat, läßt sich in der Tat belegen.

Dokument von 1639Bisweilen besorgt der Zufall das Finderglück. Ein Schreiben der Mainzer Behörde an die „Landschaft Rhinggaw", das in die Bewertung der Mainzer Hexenprozesse bisher nicht eingegangen ist, kann diesen Zweifel beseitigen. Das Dokument fand sich abseits der Hexenakten in einem schmalen Konvolut zu Vorgängen, die sich mit den Folgen des Dreißigjährigen Krieges befassen. Verwahrt ist es zusammen mit Finanzunterlagen, die die „Konfiskation der Güter des in schwedische Dienste getretenen Christoph Knau zu Rüdesheim" betreffen und stammt vom 19. Januar 1639. (18)

In diesem Jahr 1639 waren nach Abzug der schwedischen und hessischen Truppen die Stadt Mainz und der Rheingau gerade wieder drei Jahre in kurfürstlicher Hand und die bürokratischen Mühlen hatten erneut mit ihrem geduldigen Mahlwerk begonnen. Unter Vorgängen, die bei der eiligen Flucht der Mainzer Beamten vor dem Schwedeneinfall im Herbst 1631 in irgend einem Aktenschrank liegengeblieben waren, befanden sich offensichtlich auch Unterlagen zu bisher nicht eingezogenen Hexenschulden in der Gemeinde Lorch, derer sich nun ein gründlicher Beamter mit Namen Klapperbach annahm. Nicht zuletzt von kurfürstlicher Geldnot angetrieben, geht er daran, das wegen der kriegerischen Ereignisse Versäumte nachzuholen.

In recht vertraulichem Ton kommt er gleich zu Anfang seiner Vorlage, die er für Kurfürst Anselm Casimir von Wambold (+1647) am 19. Januar 1639 anfertigt, zur Sache. „Lieber getreuer", schreibt er an den rheingauischen Vicedom, „Unß ist auß deinem zu Vnserer Cammer der noch ausstehenden Fiscalischen güeter der halber der hingerichteten Zauberischen Personen in Vnserem landt Rhinggaw vbergebenen memorial gehorsambst referiert worden." Im folgenden gibt er seiner Besorgnis Ausdruck, daß die noch nicht eingezogenen gerichtlich zu konfiszierenden Güter und Häuser der hingerichteten Hexen oder Hexer durch die Kriegseinwirkungen zweifelsohne an Wert verloren hätten. Durch Neufestsetzung der „fiscalischen quoten", so seine Mahnung, sei sicherzustellen, daß von den betroffenen Hinterbliebenen die „schuldige gepürr" nun endlich entrichtet werde.

Durch dieses Dokument können zwar noch immer nicht Namen und Anzahl der Prozeßbeteiligten rekonstruiert werden. Auch über die Art der Vorwürfe, mit denen die Opfer konfrontiert worden waren, gibt es uns keine Auskunft, aber es beweist eindeutig, daß es im Lorcher Amt auch zu Hinrichtungen gekommen ist. Zugleich gibt es weitere Indizien, die diesen Sachverhalt erhärten. Drei Jahrzehnte nach dem genannten erzbischöflichen Schreiben von 1639, genau am 24. März 1671, schließt der Mainzer Jurist Steiner die Bearbeitung einer Rundfrage unter den Rheingauer Gemeinden ab, die später als „Rheingauer Jurisdiktionalbuch von 1671" in die historische Quellensammlung der Region eingehen wird. (19) Zum Zweck dieser Umfrage war den Schultheißen und Räten eine Art standardisierter Fragenkatalog zugestellt worden, den sie bis zum Anfang des Jahres 1671 nach Wissen und Gewissen zu beantworten und gegebenenfalls mit Hinweisen auf juristische Streitfälle, auf ältere Dokumente, auf Verträge oder Weistümer zu ergänzen hatten. Die kurmainzische Behörde verfolgte damit das Ziel, die Rechtsverhältnisse in diesem Landstrich neu zu ordnen, der noch immer von den Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges geprägt war.

Eine der Fragen bezieht sich auf die jeweilige Handhabung der „Malefitzcösten", jener Kosten also, die bei Verfahren und Aburteilungen von Missetätern anfielen. Alle Gemeinden beantworten diese Frage nahezu gleichlautend, wie es etwa der Niederwallufer Rat formulierte: „Sothane Kosten, falls der arme Sünder nicht (selbst) zubezahlen hat, werden vff Land (den gesamten Rheingau) (um)gelegt, daran wir Vnser quotam erlegen müßen". Allein die Lorcher offenbaren in ihrer Antwort, daß sie Erfahrungen im Umgang mit den speziellen Konfiskationsvorschriften gesammelt haben, die für die Hexenprozesse von der Mainzer Regierung am 13. April 1612 eigens erlassen worden waren. Und sie halten mit dieser Erfahrung auch nicht hinter dem Berg, indem sie den genannten Verfahrensweg durch den Hinweis ergänzen:
„Vndt so viel die hexerey belanget, werden selbige in begebenden Zeiten aus Ihren eigenen mittelen iustificirt undt hingericht, so dan aus deren verlaßenen haab undt güthern dem fisco ein Kindts Theyl verfalen ist."(20) Wie überall - und nicht nur im Herrschaftsgebiet der Mainzer Kurfürsten - hatten also auch in Lorch die wegen Hexerei Verurteilten nicht allein Prozeß, Haftkosten und Hinrichtung selbst zu bezahlen. Aus ihrem Nachlaß („verlaßenen haab undt güthern") wurde auch noch der vorgeschriebene „Kindtstheyl" eingezogen und nach Mainz abgeführt, jene Quote also, welche die Kurfürstliche Regierung laut Gesetz für sich beanspruchte.

Die Lorcher und ihre Hexen

Alles deutet daraufhin, daß der Lorcher Schultheiß und Rat bei dieser Antwort die Ereignisse vom Ende der Zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts im Blick haben, die sich in dem Dokument aus dem Jahre 1639 spiegeln. Denn zur Zeit der Umfrage unter den Rheingauer Gemeinden waren unter Kurfürst Johann Philipp von Schönborn (1647-73) die Hexenprozesse im Stift bereits abgeschafft worden. Doch die Bewohner am westlichen Zipfel des Rheingaus, die bisweilen bessere Kontakte zu den protestantischen Nachbarn, vor allem zum pfälzischen Bacharach pflegen als zum Rest des traditionell katholischen Rheingaus, sind von diesem neuen Kurs des Landesfürsten offenbar nicht sehr begeistert. In ihrem immer noch stark zerstörten Ort, in dem Schweden, Sachsen, Hessen und vor allem die Franzosen wüst gehaust hatten, scheint die Hexenjagd im Gegensatz zum übrigen Rheingau recht hartnäckige Anhänger gehabt zu haben.

Einer der Gründe mag vielleicht darin zu suchen sein, daß der Flecken „vom übrigen Rheingau abgeschnitten" war, wie Wilhelm Heinrich Riehl noch 1864 in seinem Aufsatz „Bauernland mit Bürgerrechten" schreibt, verbunden nur durch einen schmalen Pfad, der am Rheinufer entlang führte und  der „an manchen Stellen selbst für den Fussgänger nicht gefahrlos gewesen sein soll".(21) Zudem pflegen die Lorcher eine relativ große Eingenständigkeit mit eigenem Landrecht und eigenem Zehntgericht. Kaum drei Jahre nach der oben genannten Umfrage, nämlich Ende des Jahres 1674, drängen die Bürger die kurfürstliche Behörde erneut, in Lorch ein Hexereiverfahren zu eröffnen. Es gelingt ihnen sogar, den rheingauischen Vicedom auf ihre Seite zu bringen, der nach Mainz berichtete, daß die Gerüchte von Lorcher Hexen „auch bis nacher cölln, und weiters erschollen" seien. Von Mainz schickt man daraufhin den kurfürstlichen Rat Dr. Schlaun, um nach dem rechten zu sehen und „wegen des Lasters der Zauberey (  ) dieses werck mit erfordertem bestand grundlich zu untersuchen"(22) Kaum sechs Wochen später legt Schlaun das Untersuchungsergebnis vor und er läßt keinen Zweifel daran, daß es sich im vorliegenden Fall um eine Diffamierungskampagne einiger Bürger gehandelt habe, die sich, wie er feststellte, „wegen der Unterstützung durch den Ortspfarrer renitent" verhielten.

Anzunehmen ist, daß der Mainzer Beamte dem damaligen Ortsgeistlichen Stephan Burgers und den anderen Hexenjägern heftig ins Gewissen geredet hat, denn nicht nur die auf Denunziation beruhenden Hexenprozesse waren in der Mainzer Herrschaft abgeschafft worden. Schönborn hatte auch auf kircheninterner Ebene dem aus der Bevölkerung kommenden Verfolgungsdruck einen Riegel vorgeschoben. Nach der neuen Kirchenordnung war schon seit dem Jahre 1669 „allen Manns- und Weibß-Persohnen, die sich mit der bißhero verspürten üblen Nachreden gegen ihre Mitmenschen nit enthalten", eine gründliche Bestrafung angedroht. Die Lorcher hörten es wohl und verhielten sich - zumindest vorerst - still. Sie warteten einfach den regen Kurfürstenwechsel ab, der nach der langen Regierungszeit des ersten Schönborn folgte. Und so verwundert es nicht, wenn sich in einer zwar undatierten, aber vermutlich späteren „Supplikation" der Lorcher erneut ein Hinweis auf das „abscheuliche Hexenlaster" in ihrem Ort findet. (23)

Lorcher HexenturmHinter diesen Vorgängen ist wohl der wirkliche Ursprung für den Namen des Lorcher „Hexenturmes" zu suchen, der aufwärts im Wispertal neben Schauertor und Burgtor gelegen, zur alten Stadtbefestigung gehörte. Die Ortschroniken (24) führen den Namen freilich auf den betrügerischen, aber nicht erfolgreichen Täuschungsversuch des Wentz Philipps zurück, eines Presberger Bürgers, der hundert Jahre zuvor, im Jahre 1520, seine Schwiegermutter als Hexe angeschwärzt und ihre Verhaftung betrieben hatte.

Der Vorfall, der in einem Dokument des Lorcher Stadtarchives überliefert ist, wirft allerdings sein Licht auf einen ganz anderen Sachverhalt. Als man nämlich die Witwe König, ebenfalls eine Presbergerin, „nach getanem Verhör gemäß instruction in den Torm, so am Wysselberg belegen, inlogieret", eilen zahlreiche Bürger herbei, um zugunsten der Verdächtigten auszusagen und für sie zu bürgen. Sie sei „ein fromm, ehrsam und fleissig weyb und eine Hexe nit", wie es in der Niederschrift vom 15. Mai 1520 heißt. Wentz Philipps hingegen, ihr Schwiegersohn, „sey lidderlich, unholdig und eyn Sauffer". Er wolle sich auf diese Weise nur „der wittib Haus und Sach eygen" machen. Die Bürger lassen es nicht bei einem lautstarken Protest bewenden, sie werden sogar handgreiflich.

Und jetzt geschieht etwas, das hundert Jahre später, also in der oben behandelten Zeit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vielerorts kaum mehr denkbar ist. Auf diese Vorhaltungen der Mitbürger hin wird „die Künig Wittib stracks freygesetztet, aber Wentz Philipps in den Torm gebracht und scharf eingesetzet". Bei seiner Verhaftung kommt es zu einem regelrechten Aufstand unter den Bürgern, der den schlecht beleumdeten Presberger fast das Leben kostet. Den Denunzianten trifft der Volkszorn. „Vill Weyber und Männerleut von Loriche" hatten ihn „deromaßen geschlahen, daß nit zehen Büttel der Druffschläger wehren kunnten". Die beiden Gerichtsdiener, denen man wegen mangelnder Fürsorge für den Gefangenen einen Verweis erteilt, führen zu ihrer Entschuldigung an, daß die Lorcher und die Presberger „deromaßen wütig und doll uff Wentz Philipps" gewesen seien, „und so wir nit gutt Wort und Bitt gethan, also seye der Wentz Philipps niddergeworfen stracks und gantz zu tot geschlahn"(25)

Die Geschichte von der Presberger Witwe König und ihrem Schwiegersohn scheint zu belegen, was Historiker für viele Verfolgungsgebiete zu Tage fördern, in denen seit der Wende ins 17. Jahrhundert Hexenangst und Hexenverfolgung grassieren. Das kirchliche Lehrgebäude vom gefährlichen Handel und Wandel der Hexen, das archetypische Fahndungsbild dieser Verschwörungstheorie, war zu Anfang des 16. Jahrhunderts noch nicht wirklich ausformuliert. Auch fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen hatte der „Hexenhammer" in der Bevölkerung noch kein wirkliches Echo gefunden. Erst später, am Ende des Jahrhunderts und in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges haben die Menschen ihre Meinung nachhaltig geändert und halten den Hexenbeschuldiger nun für einen guten Mitbürger.

Man mag darüber rätseln, warum die Lorcher, die so spät vom Hexenfieber infiziert wurden, auch noch in den späten Jahren des 17. Jahrhunderts an diesem Wahn so hartnäckig festhielten, daß ihre Hexenangst sogar in den Sagenschatz der Region Eingang fand. Über lange Zeit hin, so wird überliefert, pflegte man in Lorch das „Walpurgisgeläut" zum Schutz gegen die Hexen, die man vor allem jenseits des Rhein im Hunsrück vermutete. Wenn an Walpurgis die Glocken von Sankt Martin läuten, „dann kann keine Hexe über den Rhein, sagten die Leute"(26)

Nach Auswertung der vorhandenen Quellen bleibt festzuhalten: Die Lorcher Ereignisse waren wohl eher die Ausnahme, während für den restlichen Rheingau vergleichbare Neigungen kaum belegbar sind. Das heißt allerdings nicht, daß im Falle nachbarschaftlicher Streitigkeiten, bei denen man wie überall aus einem reichhaltigen Repertoire an Flüchen zu schöpfen pflegte, nicht auch dort schon mal das Wort „Hexenmeister" gefallen wäre, wie das beispielsweise von Heinrich Schatz aus Geisenheim bezeugt ist. Er hatte im Jahre 1677 seinen Mitbürger Johannes Barten einen „Dieb und Schelmen" und Adam Ertten einen „Hexenmeister gescholten". In diesen Jahren hätte das in anderen Regionen Deutschlands womöglich noch Hexenausschüsse auf den Plan gerufen und Adam Ertten in ein Hexereiverfahren verwickelt. Im Rheingau jedoch war dieser Spuk, wenn es ihn denn hier jemals in nennenswertem Umfang gegeben hatte, längst vorbei. Stattdessen wurde Heinrich Schatz nur noch vor das „Frewelgericht" zitiert, das ihn für diese Schmähung seines Nachbarn mit sechs Gulden Strafe belegte. (27) Andererseits bedeutet das freilich nicht, daß die Obrigkeit fortan nur noch zu vergleichsweise sanften Mitteln wie der Geldstrafe übergegangen wäre. Als im Jahre 1679 zwei Kirchendiebe in Lorch abgeurteilt werden, verabreicht man ihnen nicht nur eine ordentliche Tracht Prügel, man schneidet auch jedem ein Ohr ab, (28) (was heute offensichtlich nur noch in Teilen der Video-Branche üblich ist, wie ein Prozeß vom Dezember des Jahres 2001 belegt).

Nachbemerkung
Und damit zur Gegenwart. Längst ist das Thema Hexenverfolgung in die Hände des touristischen Managements gefallen, dem es nicht selten gelingt, diese schmerzliche Phase der frühen Moderne bis zum Gedächtnisverlust in folkloristische Events umzuprägen. Zu dieser kommerzialisierten Geschichtsflederei muß sicherlich auch das Rüdesheimer Foltermuseum gezählt werden, mit seinen zahlreichen historisch nicht belegbaren Nachbauten von Folterwerkzeugen. Außer dem Lorcher „Hexenturm" jedoch, der sich in Privatbesitz befindet und kaum öffentlich zugänglich ist, bietet der Rheingau hier allerdings - und zum Glück, könnte man sagen - keine weiteren Anknüpfungspunkte.

Und dennoch. Im Herbst des Jahres 2000 setzten sich im Eltviller Stadtteil Erbach einige Fastnachtsbegeisterte zusammen, um einen neuen Verein zu gründen, dem sie den Namen „Erbacher Hexen" gaben. Daran wäre weiter nichts Ungewöhnliches. Auch in der schwäbisch-alemanischen Fastnacht kennt man die „Fastnachtshexe". Auf eine „lange Tradition" kann man sich hierbei freilich nicht berufen. Zwar taucht im 19. Jahrhundert in der Tiroler Fastnacht die „Alte Hexenmutterlarve" auf, in der schwäbisch-alemanischen Fastnacht jedoch beginnt diese Tradition erst mit dem Offenburger Kunstmaler Karl Vollmer. Er kreierte im Jahre 1933 eine Hexengestalt, die den romantischen Märchenillustrationen nachgebildet ist. (29) Überraschend schnell fand diese Gestalt jedoch Eingang in das regionale Maskenbrauchtum und - was den Kenner kaum verwundern wird - freundliche Zustimmung von NS-Ideologen. Nach 1945 schließlich, so Mezger, „schossen Hexenfiguren wie Pilze aus dem Boden."

Aufgeklärte Narrenfunktionäre weisen heute zumeist darauf hin, daß ihre Fastnachtshexen nichts mit den tragischen Opfern früherer Hexenprozesse zu tun hätten. Nicht so die „Erbacher Hexen". Bedenklich stimmt die Tatsache, daß sie ihre Neugründung in der Tat mit einen Hexenprozeß in Erbach in Verbindung bringen, „von dem die alten Leute im Dorf schon immer erzählt hätten". So jedenfalls die wage Auskunft seitens des Vereins. Von der tatsächlichen Quellenlage einmal abgesehen, die für solche „historischen Wurzeln" nichts hergibt, möchte man den „Erbacher Hexen" raten, diesen Rückgriff auf ein schwieriges Stück Geschichte schleunigst wieder zu vergessen und nach anderen Traditionen - wenn es denn darum gehen sollte - zu suchen.

Wie wäre es etwa mit dem „Rheingauer Weistum" von 1324. Mit dieser gut bezeugten Rechtssammlung ist schon früh so etwas wie ein Asylrecht in der Region installiert worden, das dem Flüchtling aus fremder Landesherrschaft ausdrückliche Unterstützung der Rheingauer Beamten zusicherte. Die hatten gar persönlich Hand anzulegen, um den Flüchtling samt Fluchtgepäck „über die Grenzlinie zu ziehen", wenn ein Verfolger ihn daran hindern sollte. Im Falle daß diese Unterstützung nicht rechtzeitig erfolgt war, hatten sie dem Verfolgten gar Ersatz für den erlittenen Verlust an Hab und Gut zu leisten. (30)

Diese der frühen Mainzer Ansiedelungspolitik dienende Privilegierung von Flüchtlingen ging allerdings im Bauernkrieg und durch die ihm folgenden kurmainzischen Restriktionen wieder verloren. Die alte „Rheingauer Freiheit", die den Flüchtlingen in dieser Region Rechte einräumte, die seinerzeit noch kaum in den Städten durchgesetzt waren, erscheint angesichts aktueller Gesetzte zur Einwanderungsproblematik als echte Traditionslinie, die es sehr wohl verdiente, nicht in Vergessenheit zu geraten, auch wenn sie schon den flüchtenden Opfern der Hexenprozesse kaum mehr eine verläßliche Hilfe bot.

Anmerkungen
(1) Hess. Hauptstatsarchiv Wiesbaden (HStAW) 369/145.
(2) zur Darstellung des Falls vgl. Elmar M. Lorey: Henrich der Werwolf. Eine Geschichte aus der Zeit der Hexenprozesse mit Dokumenten und Analysen. Frankfurt 1997, v.a. S.73-118.
(3) zur Entwicklung dieses Fahndungsbildes vgl. Elmar M. Lorey: Das Werwolfstereotyp als instabile Variante im Hexenprozeß. In: Nassauische Annalen Jg.112, 2001, S.135-176. Als E-Text: http://www.elmar-lorey.de/Stereotyp.htm
(4) Vgl.Gilla Flothmann et.al.: Den Hexen auf der Spur. Über Hexenprozesse am Beispiel Idstein 1676. Idstein 1986.
(5) H.J. Häbel: Die Kulturlandschaft auf der Basaltfläche des Westerwaldes vom 16.-18. Jahrhundert. Wiesbaden 1980, S.101.
(6) Vgl. Max Ziemer: Der Werwolf in Wörsdorf. In: Nassovia, Jg. 28, 1928, S. 3ff.
(7) HAStAW 369/554.
(8) Zu den Homburger Prozessen vgl. Theodor Schüler: Aberglaube und Hexenprozesse in Homburg und den umliegenden nassauischen Gebieten (1584 bis 1725). In: Alt Nassau, Jg. 1911, Nr.1-9, (S. 1-34); Lorey, wie Anm.3; Zum Thema Kinder im Hexenprozeß vgl. Wolfgang Behringer: Kinderhexenprozesse. Zur Rolle von Kindern in der Geschichte der Hexenverfolgung. In: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), 31-47; Hartwig Weber: Die besessenen Kinder. Teufelsglaube und Exorzismus in der Geschichte der Kindheit. Stuttgart 1999.
(9) HAStAW 369/547.
(10) HAStAW 369/548.
(11) HAStAW 369/549.
(12) HAStAW 369/543.
(13) Bayer. Staatsarchiv Würzburg AAR 360/X Nr.2, f.82v.
(14) zit.nach Herbert Pohl: Hexenglaube und Hexenverfolgung im Kurfürstentum Mainz. Stuttgart 1988, S. 52.
(15) Carl Heiler: Biebrich-Mosbacher Zustände 1594. In: Nassovia 1927, Jg.27, Nr.9; Zur Neubewertung magischer Praktiken vgl. hier auf diesen Seiten: Elmar M. Lorey: Vom Wolfssegner zum Werwolf. Hexereiprozesse im Nassauer Land.  http://www.elmar-lorey.de/Segner.htm
(16) Horst Heinrich Gebhard: Hexenprozesse im Kurfürstentum Mainz des 17. Jahrhunderts. Aschaffenburg 1989, S. 306.
(17) Staatsarchiv Würzburg, Klub.365 fol.32r.-102r.
(18) HStAW 100/30.
(19) HStAW 101/117.
(20) HStAW 101/117 fol.105.
(21) Wilhelm Heinrich Riehl: Bauernland mit Bürgerrechten. München 1864, S. 12.
(22) Pohl, S.25.
(23) ebd. Anm. 161.
(24) zuletzt noch Robert Struppmann: Chronik der Stadt Lorch im Rheingau. Lorch 1981.
(25) zitiert nach Struppmann, S. 42.
(26) Adolf Becker: Aus Nassaus Sagenschatz. Idstein 2.Aufl.1922, S. 73.
(27) HStAW 102/35, Fol.41.
(28) Franz Carl Altenkirch: Lorch im Rheingau. Die Geschichte einer Stadt vom Ursprung bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1926, S. 170.
(29) Werner Mezger: Das große Buch der schwäbisch-alemannischen Fasnet. Ursprünge, Entwicklungen und Erscheinungsformen organisierter Narretei in Südwestdeutschland. Stuttgart 1999, S. 53f.
(30) Vgl. etwa Paul Richter: Der Rheingau. Wiesbaden 1913, S. 86.

© Elmar M. Lorey 2002

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