Elmar M. Lorey
Als der Wein noch vom Arzt verschrieben wurde
Von den Freuden einer Wiederentdeckung
 
 

Als der vierundzwanzigjährige Quedlinburger Kaufmannssohn Daniel Dieter Jacobi am 29. März 1740 das Vorwort zu seiner Dissertation abgeschlossen hatte und das Manuskript zum Wittenberger Drucker Eichsfelder brachte, hatte er sein Arztpatent so gut wie in der Tasche. Die mit ihren 72 Seiten für die Zeit ungewöhnlich umfangreiche Arbeit trug den Titel: „De venenata vini alimenti ac medicamenti optimi virtute", was ohne die geringste schwärmerische Übertreibung einfach so zu übersetzen ist: „Über die Zauberkraft des Weines, dem besten Medikament und Nahrungsmittel".

Medizin. Dissertation von 1740Daß sein Doktorvater, Professor Christian Gottfried Stentzel, der neben dem Lehrstuhl für Chirurgie und Pathologie auch das ehrenvolle Amt eines Prorektors an der Wittenberger Universität inne hatte, die Arbeit des jungen Mannes mit Freuden annahm, ist nicht weiter verwunderlich. Der Wein als Medikament - und unter den deutschen Weinen vor allem der Rheinwein - genoß unter den Ärzten des 18. Jahrhunderts - und unter ihnen wiederum vor allem bei jenen in Sachsen, Anhalt und Brandenburg - höchstes Ansehen. Dabei standen die wirklichen Höhepunkte der „Oinotherapie" erst noch bevor. Die medizinische Lehre des schottischen Arztes John Brown (1735-1788), der den Wein zu einem der zentralen Therapiemittel seiner „Reizlehre" machte, kam erst ein paar Jahrzehnte später nach Europa, wo sie aber gerade unter der deutschen Ärzteschaft breiteste Zustimmung fand. Einer von Browns Anhängern, der Hallenser Professor Horn (1774-1848), kam in seinem 1803 erschienenen „Handbuch der praktischen Arzneimittellehre" gar zu dem Schluß, daß der Wein das „wirksamste Arzneimittel überhaupt" sei. Wenige Jahre später (1816) veröffentliche Eduard Leopold Löbenstein-Löbel seine ausführliche Darstellung unter dem Titel „Die Anwendung der Weine in lebensgefährlichen Krankheiten". Eine weitere Aufzählung vergleichbarer medizinischer Arbeiten wäre problemlos möglich.

Läßt man den auch heutigen Tages noch immer ein wenig irritierten Blick, den mancher bei diesem Thema bekommt, unbeachtet, könnte man sagen: Weintherapie war eine Alltäglichkeit und wurde so lange nicht wirklich bestritten, bis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Louis Pasteur (1822-1895), ausgerechnet ein passionierter Weinliebhaber, dem mythischen alten Medikament mit der Lüftung des Geheimnisses der alkoholischen Gärung den Garaus machte. Der Alkoholismus, eine Begleiterscheinung der von der frühindustriellen Epoche erzeugten Verarmung ganzer Volksschichten, begünstigte eine Bewegung, die sich bereitwillig der neuen wissenschaftlichen Erkenntnis bediente und sie zum Kampfmittel - nein, nicht direkt gegen den Wein - sondern gegen alkoholhaltige Getränke überhaupt machte. Der Verbannung des Weines aus der „Apotheke" (womit ehemals in der römischen Villa eine Abstellkammer im oberen Geschoß bezeichnet wurde, in der Nähe des Kaminabzugs gelegen, in der die Gefäße mit dem jungen aber erstmals abgestochenen Wein verwahrt wurden; erst in den mittelalterlichen Klöstern wird sie zum Magazin für Heilkräuter und Kräuterweine), der pharmazeutischen Verbannung des Weines also, folgte zunächst der Weingeist, der gewissermaßen an seine Stelle trat, bis schließlich der „reine medizinische Alkohol" in Arztpraxen und Apotheken überall Einzug hielt und damit dem alten aus der Rebe gewonnenen Medikament vollends den Todesstoß versetzte.

Doch lauschen wir noch für einen Augenblick dem jungen Quedlinburger Kaufmannssohn Daniel Dieter Jacobi, der sich schon auf den ersten Seiten seiner Dissertation und gleich über viele Seiten hinweg zuvörderst mit den medizinischen Wunderwirkungen des Rheinweines befaßt. Der wissenschaftliche Text, der sich keineswegs nur auf antike, sondern auf eine beeindruckende Zahl zeitgenössischer medizinischer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts stützen kann, beginnt mit einer Eloge, die nicht nur Einblick in das Arsenal des damaligen pharmazeutischen Angebotes gewährt, sondern zugleich den Weinliebhaber von heute unweigerlich vor die Frage stellt, ob er vielleicht doch ernsthafter nach jener in Literatur und Filmen häufig beschriebenen Zeitmaschine suchen sollte, die ihn wenn schon nicht für immer so doch für die überschaubare Zeit eines Kuraufenthaltes in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückversetzen könnte.

Jacobi eröffnet seine Arbeit mit folgenden Worten:
„Mögen die einen ihre Lebenselixiere loben, andere ihre Tinkturen, die mineralisch oder sonnendurchflutet heißen, andere mögen in Reden und auf Tafeln ihre Pillen anpreisen, andere ihre Pülverchen und Kräuter rühmen, andere ihre Goldtränke, in denen (das Gold) in einzigartiger Kunst gelöst ist. Andere mögen ihre kostbaren Medikamente, die noch wertvoller als Gold seien, verkaufen. Andere mögen ihre Heilmittel feiern, die aus Antimon zubereitet sind, und die Hilfe hoch schätzen, die das Opium bietet. Andere preisen Schutzmittel gegen jegliche Krankheit, die vom lebendigen Silber zu erhalten sind. Für andere sind am empfehlenswertesten die Hilfen, die vom Vitriol oder dem Salpeter ausgehen. Der Wein aber entreißt all diesen die Palme. Der Wein verdient vor all diesen Dingen gewiß ewigen Ruhm. Laßt uns also den Wein loben, und zwar so, daß wir seine reinen Kräfte - dem schädigenden Mißbrauch gegenübergestellt - auf das nützlichste und präzise aufzeigen und kennenlernen."

Triumpf der Wissenschaft über die Politik

Nun, wir wissen wie die Sache ausging. Siehe oben. Aber: Zur Freude der Winzer ist der Wein - nunmehr auch der Weißwein - als lebensverlängerndes Medikament und als ideales Mittel zur Herzprävention längst wieder in aller Munde. Nicht zuletzt seit die ansonsten eher prohibitionsbereiten amerikanischen Gesundheitsbehörden im Januar 1996 den moderaten täglichen Weingenuß ins eherne Tafelwerk ihrer Gesundheitsrichtlinien eingemeißelt haben. Die New York Times sah sich übrigens veranlaßt, diesen Schritt gar als "Triumph der Wissenschaft und Vernunft über die Politik" zu kommentieren. Gleichzeitig zieht der streitbare deutsche Ernährungswissenschaftler Nikolaus Worm (1) die Quintessenz aus den Forschungen der letzten Jahre. Für ihn ist "der Verzicht auf Wein ein Risikofaktor für unsere Gesundheit".

Der Weinliebhaber jedenfalls sieht gelassen, daß die von Medizinern und Pharmakologen gefeierte neue und vielfach gesicherte Erkenntnis, im Grunde eine erfreuliche Wiederentdeckung alten Wissens ist. (2)  Ganz ähnlich ergeht es übrigens auch anderen ehemals volkstümlichen Heilmitteln, die - so könnte man im Rückblick auf das gerade verrauschte 20. Jahrhundert sagen - nur kurzfristig aus der Mode kamen. Gegenwärtig ist man dabei, die Heilkraft des Weihrauchs wieder zu entdecken und aus einer Art der altmodischen Artemisia, dem fast zum Unkraut abgestiegenen Beifuß, entwickelt man ein wirksames Malariamittel, das im Gegensatz zu den bisherigen Präparaten dem Erreger keine Resistenzbildung mehr erlaubt. Neu ist auch dieses Mittel nicht. In der chinesischen Medizin wird es seit Generationen angewendet. Eine Wiedergutmachung, die auch der alten Heilpflanze Johanniskraut (Hypericum perforatum) erst vor ein paar Jahren widerfuhr, als man nach überraschenden Heilerfolgen mit standardisierten Extrakten darüber staunte, daß sie im Gegensatz zu den synthetisch hergestellten trizyklidischen Antidepressiva den Patienten auch eine praktisch nebenwirkungsfreie Erleichterung verschaffen. Aus eigener Erfahrung kann der Autor anfügen, daß er bei ärztlich diagnostiziertem Hautekzem die erfolgreiche Behandlung mit „Rebtränen" beobachten konnte, wo das übliche Mittel der Wahl, Cortison, vergeblich eingesetzt worden war. Eine Therapie mit dem „Wasser, so (im Frühjahr) auß den Reben (an den Schnittstellen) tropfft", wie Leonhart Fuchs in seinem „New Kreüterbuch" von 1543 schreibt, war schon in der antiken Medizin bekannt.

AOK-Schreiben vom 21.5.1892Wohl also dem Patienten, dessen Hausarzt Neues zu lernen bereit ist, ohne zugleich altes Wissen zu vergessen? Unter dem ökonomischen Druck der Krankenkassen werden künftig die Sozialpolitiker jene Ärzte preisen, denen es gelingt, Patienten nicht für das teuerste, sondern für das wirksamste Mittel zu gewinnen, selbst wenn es aus Großmutters Hausschatz stammen sollte. Ob wir dabei freilich auf eine Wiedergeburt der Weintherapie hoffen dürfen, ist eine andere Sache. Immerhin. Noch mit Schreiben vom 21. Mai 1892 wandte sich die Ortskrankenkasse Heidelberg an den Schwetzinger Hofapotheker Fr. Durand mit der Anfrage, doch bitte für die „Abgabe von Weiß- und Rothwein an unsere erkrankten Kassenmitglieder" ein entsprechendes Depot anzulegen. (3)  Zwischen uns und der ärztlich verordneten Flasche liegt also nicht mehr als das vergangene Jahrhundert, das sich ja auch sonst als besonders barbarisch ausgezeichnet hat.

Drum preiset mir die klugen Hausärzte...

Manch kluger Hausarzt, der seine wissenschaftlichen Kenntnisse zusammen mit solchen über die therapeutischen Wirkungen ausgesuchter Weine auf dem neuesten Stand hielte, könnte bei manchem seiner Patienten ohne Zweifel auf einen sicheren Ehrenplatz rechnen. Es muß ja nicht gleich die Ehre eines Domaltars sein, wie sie einem der letzten deutschen Weintherapeuten zuteil wurde. Freilich muß man sogleich auch hinzufügen, daß die weinmedizinischen Behandlungsmethoden nicht den direkten Anlaß dazu gaben. Ferdinand von Heuss (1848-1924)Ferdinand von Heuss (1848 -1924) heißt er, war Winzer und Arzt und betrieb in der Weinbaugemeinde Bodenheim bei Mainz ein florierendes Weingut. Lange Zeit hochgeschätzter Militärarzt in Bayerischen Diensten und kenntnisreicher Verfechter der Weinmedizin, widmete er sich Anfang des 20. Jahrhunderts besonders leidenschaftlich einer natürlichen und möglichst unverfälschten Weinherstellung. Wie für viele Ärzte seiner Zeit war ihm der Wein ein unverzichtbares Mittel zur Therapie zahlreicher Krankheiten und zur allgemeinen Prophylaxe.

Über einen seiner spektakulärsten Fälle berichtet er selbst in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1906. (4) Eine Bodenheimer Winzersgattin, die so stark an einer "septischen Gebärmutterentzündung" erkrankt war, daß seine ärztlichen Kollegen sie schon aufgegeben hatten, behandelte er über sechs Wochen hinweg mit 120 Flaschen seiner Bodenheimer Weine. Jedesmal wenn die Patientin erwachte, so lautete seine Anweisung, solle man ihr Wein einflößen. Zum Einsatz kamen Weine aus den Jahrgängen 1868, 1875, 1895 und 1897. Trotz aller Zweifel seiner Kollegen stellte sich der Erfolg bald ein. Die Frau genas und überlebte nicht nur, sondern lebte fortan, ohne auch nur den geringsten Schaden aus Krankheit und Therapie davongetragen zu haben.

Sich selbst bezeichnete Heuss als lebenden Beweis für das erfolgreiche Therapiekonzept mit Wein. Als ihn 1884 ein schwerer Typhus niedergeworfen hatte, besiegte er die lebensgefährlich Infektion mit 80 Flaschen aus seinem Keller. Es war der 1868er. Und damals hatte Heuss noch weitere gesegnete vierzig Lebensjahre vor sich.

Nach Kräften förderte der Arzt und Weinkenner das Genossenschaftswesen, um gerade die kleinen Winzer aus der Abhängigkeit von spekulativen Weinaufkäufern zu befreien, von denen nach seiner Kenntnis nur wenige ihren Kunden wirklich "reinen Wein" einschenkten. Gemeinsam mit hochkarätigen ärztlichen Autoritäten von den Universitäten Würzburg, Heidelberg, Erlangen, München und Gießen kämpfte er für "puristische" und ungezuckerte Naturweine, die vor allem von Rheingauer Winzern gerade „wiederentdeckt" worden waren. Als im Jahre 1906 die vierte Novelle zum Reichsweingesetz anstand, die den Winzern und Weinaufkäufern auch weiterhin Naßzuckerung und Aufspritung der Weine (bis auf 17%) erlaubte, scheute Heuss auch nicht die öffentliche Polemik. Er verfaßte Artikel und reiste zu Winzerversammlungen, um seine Kollegen immer wieder mit flammenden Plädoyers für seine Devise zu gewinnen: "Weinvorsorge ist Medizinvorsorge".

Als Ferdinand von Heuss 1924 starb, wurde er in der Gruft der Mainzer Familie Kraetzer auf dem alten Friedhof an der Universität beigesetzt. Daß die Stadtverwaltung noch heute sein Grab sorgsam pflegt, geschieht freilich weniger aus Dankbarkeit für das weinfreundliche Therapiekonzept des Arztes, sondern ist der Tatsache zu verdanken, daß seine Mutter einer alteingesessenen Mainzer Familie entstammte, aus der auch einer der bekanntesten Bürgermeister der Stadt hervorgegangen ist.

Und dennoch haben die Mainzer auch heute noch Gelegenheit, einem der letzten deutschen Weintherapeuten die Ehre zu erweisen, lebt er doch mitten unter ihnen fort auf einem Konterfei, das sich in ihrem altehrwürdigen Dom befindet. Auf dem Altarbild der Laurentiuskapelle, der zweiten Kapelle in der Südwand der Kathedrale, ist unterhalb einer Christusdarstellung in blaugrüner und roter Gewandung ein predellaartiges Feld angebracht, in dem nach Art alter Stifterbilder eine Familie dargestellt ist. Der zartfarbige Bildstreifen zeigt im rechten Teil den Knaben Ferdinand von Heuss mit fromm gefalteten Händen, umgeben von seinen fünf Schwestern und dem Vater. Im mittleren Bildfeld ist die Mutter der Kinder zu sehen, die von einem Engel davongetragen wird. Beide Gemälde stammen aus dem Atelier des Vaters unseres Weintherapeuten, dem damals recht bekannten Porträtisten und Zeichner Eduard von Heuss (1808-1880), der seinerseits ebenfalls eine ärztliche Ausbildung genossen hatte. Im Jahre 1853 entstanden, erinnert das Bild an den Tod seiner Ehefrau, die im gleichen Jahr im Kindbett gestorben war.

Familie des Eduard von Heuss. Altarbild von 1853
Familie des Eduard von Heuss. Altarbild von 1853 im Dom zu Mainz

Andere Weintherapeuten dieser Zeit, wie etwa der Arzt und Winzer Stephan Oellers (1832-1908), der in Assmanshausen praktizierte, haben keine solche Spuren hinterlassen. Oellers verordnete sehr erfolgreich vor allem die heimischen Rheingauer Weine und keineswegs nur solche aus seinem eigenen gutgehenden Weingut. Doch ehe er die Weine der Winzerkollegen in sein medizinisches Repertoire aufnahm, prüfte er sie - wie der Bodenheimer Ferdinand von Heuss - zuerst auf Herz und Nieren und am eigenen Leibe. Manche der Lagen, die Oellers zur gezielten Behandlung einsetzte, sind mittlerweile in benachbarten Lagenamen aufgegangen, andere existieren noch immer und sind bei vertrauenswürdigen Winzern - freilich noch nicht in den Apotheken - zu haben. Den "Assmanshäuser Höllenberg" beispielsweise verordnete Oellers bei Magenleiden, den "Schloßberg" bei Erkältung, den "Kiedricher Gräfenberg" gab er Mißmutigen und Niedergeschlagenen und mit dem "Johannisberger Kochsberg" therapierte er jene Männer, die über "Hormonschwäche" klagten. Gegen Leibschmerzen half nach seiner Erfahrung besonders der "Assmanshäuser Hinterkirch", gegen Bleichsucht und Appetitlosigkeit die Weine von "Schloß Vollraths", während mit denen vom "Rüdesheimer Berg" die Hypochonder wieder ins Lot zu bringen waren.

Als Ende der siebziger Jahre einige Rheingauer Winzer daran gingen, zu Ehren des einheimischen "Weindoktors" ein Denkmal zu errichten, verliefen allerdings alle Nachforschungen zu seiner Person im Sande. Sein handschriftliches "Weinmedizinbüchlein", in dem seine therapeutischen Erfahrungen ihren Niederschlag gefunden haben sollten, war ebensowenig aufzufinden wie andere handgreifliche Zeugnisse seines Lebens. Der Denkmalbau unterblieb, und manch einer sprach damals vom "Phantomdoktor". Dennoch hat hier die Legende die bessere Pointe.

An ärztlichen Weintherapeuten, die sich Denkmalsehre verdient hätten, litten die Rheingauer Winzer freilich keinen Mangel. Wie wäre es etwa mit dem berühmten Professor Friedrich Hoffmann (1660-1742) aus Halle, Leibarzt zweier preußischer Könige und Erfinder der "Hoffmanns-Tropfen", die noch im 20. Jahrhundert allgemein bekannt waren. Er machte den Rheingauer nicht nur am Preußischen Hofe populär, Ende des 17. Jahrhunderts hatte er auch gleich eine regelrechte Kur mit Rheingauer Wein propagiert, die sich über volle fünf Wochen erstreckte und mit einer Anfangsdosis von 1,6 Litern täglich begann, nur leicht mit Wasser vermischt. (5) Als sich die Ärzte im Laufe des 18. Jahrhunderts dann gar mancher Gebiete bemächtigten, die bisher allein Theologen und Pfarrern vorbehalten waren, brachten die gerühmten „therapeutische Qualitäten des Rheinweines“ auch noch manch andere kuriose Blüte hervor.

Als beispielsweise im Jahre 1760 der Schweizer Arzt Simon-Auguste Tissot sein viel gelesenes Buch „Über die Krankheiten, welche aus der Selbstbefleckung entstehen“ herausgebracht und die Onanie sogar Eingang in die Encyclopédie des Denis Diderot gefunden hatte, kam es in Europa zu einem regelrechten Feldzug gegen die Masturbation. In der Folge erschienen unzählige wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, in denen die angeblichen medizinischen Auswirkungen dieser „gefährlichen Sucht und Krankheit“ ausgebreitet wurden, darunter Gehirnerweichung, Rückenmarksschwund, Pocken, Tuberkulose, Lepra, Krebs oder gar das „Erlöschen der Lebenskraft“.

Ein entsprechender Therapievorschlag des „Großherzoglich Weimarischen Medizinalraths“ Eduard Löbenstein-Löbel mochte manch einem „Erkrankten“ auf den ersten Blick damals womöglich sehr verlockend erschienen sein. In seinem Handbuch über „Die Anwendung und Wirkung der Weine in lebensgefährlichen Krankheiten“ (Leipzig 1816) hatte der nämlich gleich im zweiten Kapitel über die speziellen „therapeutischen Anwendung der Rheinweine“ auf Seite 19 empfohlen, „Subjekte, welche sich durch Ausschweifungen in der Liebe und durch Onanie geschwächt haben und an der Rückendarre leiden“ mit einigen ausgewählten Rheinischen Lagen zu behandeln. Angesichts der oben erwähnten reichhaltigen Weinkur des Hallensischen Professors Friedrich Hoffmann, die bei einer schon beachtlichen Startermenge auf bis acht Liter täglich ansteigen konnte, dosierte Professor Löbenstein-Löbel – aber nur in diesem Fall - erheblich zurückhaltender. Was er zur Behandlung empfahl, hielt zudem für jene, die sich bisher schon gewohnheitsmäßig an den Weinen dieser Region erfreut hatten, eher Enttäuschendes bereit.

Und weil sich der Text ausnimmt wie das Kleingedruckte der heute üblichen Beibackzettel, sei er hier zitiert:

Löbenstein-Löbel_1816_S_19

... und hoffen nicht nur in der Versuchung auf geistlichen Beistand

Daß hingegen jener Mainzer Domaltar, auf dem der Rheinhessische Weintherapeut Ferdinand von Heus - wenn auch als Kind - verewigt ist, nun zum Wallfahrtsort für Winzer und weinbedürftige Kranke werden könnte, muß sicherlich nicht befürchtet werden, zumal das ehrwürdige Bauwerk selbst nicht gerade arm ist an weinseligen Zeugnissen aus der Geschichte. Im reich geschnitzten Chorgestühl aus dem 16. Jahrhundert beispielsweise, das man vor einiger Zeit wieder in der östlichen Apsis des Domes installiert hat, ist heute noch ein bestimmter Chorstuhl allein dem jeweils amtierenden Bischof vorbehalten, kenntlich an seinem über der Lehne angebrachten Wappen. Klappt man allerdings den Sitz dieses edlen Betstuhles auf, lugt ein reichgestalteter und wohlgelaunter Gott Bacchus hervor, während sich die Stühle der anderen Domherren mit weitaus kargeren symbolischen Darstellungen bescheiden müssen.

Auch wenn dieser bischöfliche Chorstuhl nun nicht gerade jener historische "Heilige Stuhl" ist - ein Ehrentitel, mit dem neben dem Vatikan der Mainzer Bischhofsitz als einziger Episkopalkirche der Welt seit alters ausgezeichnet ist - so finden sich unter den Inhabern dieses Stuhles in der Vergangenheit doch recht leidenschaftliche Parteigänger des Ferdinand von Heuss. Sie traten stets für äußerste Strenge und Reinheit bei der Weinbereitung ein. Für einen von Ihnen, Matthias von Bucheck (+1328), entwickelte der kaiserliche Hofarzt Rembot im Jahre 1327 den "Dämmerschoppen", eine Spezialverordnung und gewissermaßen ein Wiederholungsrezept, das längst in die Lebenspraxis der Menschen am Rhein eingegangen ist: Kurz vor Sonnenuntergang und jeweils kurz danach sollte der hohe Herr einen "wohlgetönten" Rheingauer zum Schutz für Leib und Seele zu sich nehmen, lautete die Verschreibung, die übrigens auf dem ersten Papier niedergeschrieben ist, das man in Deutschland fabrizierte.

Einer von Buchecks Nachfolgern wiederum, Kurfürst Uriel von Gemmingen (+ 1514), ließ seine Strenge gar zum heiligen Furor werden. Von ihm erzählt man sich, daß er eigenhändig seinen Küfer erschlagen haben soll, als er ihn im Keller seines Aschaffenburger Schlosses bei unlauteren Weinmanipulationen ertappte. Ferdinand von Heuss hatte seinem alten Kellermeister für diesen Fall nur die sofortige Kündigung angedroht. Ein göttliches Medikament verfälscht man nicht ungestraft! Recht hatte er, der Weindoktor.

Anmerkungen
(1) Worm, Nicolai: Täglich Wein. Gesünder leben mit Wein und mediterraner Ernährung. Bern und Stuttgart 1996.
(2) Vgl. dazu Lorey, Elmar M.: Die Weinapotheke. Amüsantes, Kurioses und Wissenswertes aus alten Arzneibüchern und Chroniken. Bern und Stuttgart 1998.
(3)  Kopie des Schreibens verdanke ich Herrn Dr. Jur. Günter Steinhäuser, Wiesbaden.
(4)  Heuss, Ferdinand von: Winzer und Weingesetz. Würzburg 1906.
(5)  u.a. in:  Sentiment - Von Fürtrefflichkeit, Unterschied, Nutzen und Wirkungen Des Rhein-Weins. Magdeburg 1709; Neudruck Antiqua-Verlag, Lindau 1979.
 

Druckversion: Elmar M. Lorey: Als der Wein noch vom Arzt verschrieben wurde. Von den Freuden einer Wiederentdeckung. In: Rheingau­Forum (Zeitschrift für Wein, Geschichte, Kultur) Jg.9, 2000, H.1, S. 30-36


© 2001 Elmar M. Lorey
Stand: 11/2012
Zurück zu Homepage(zur Hauptseite)                                                 [ zur Übersicht aller Seiten ]