Elmar M. Lorey
Die Rheingauer Kinderschlacht von 1795
Vom historischen Ereignis zum dürren Moralstück

Die meisten Sachen, die man uns lehrt,
sind gewiß ganz wahr und richtig, aber
man kann sie alle auch anders ansehen, als die Lehrer es tun
und meistens haben sie dann einen viel besseren Sinn.
Hermann Hesse, Demian

Vom schwierigen Umgang mit einer Rheingauer Anekdote aus der „Franzosenzeit"

Meldung in den "Berlinischen Nachrichten" vom 23. Febr. 1796

Zeitungsmeldung 1796"Knabenkriege" zwischen benachbarten Dörfern gehören seit jeher zum Erzählrepertoire ländlicher Erinnerung. Aber in den seltensten Fällen läßt sich ihr historischer Kern festmachen. Zu sehr haben sie sich unter der Fabulierlust von Generationen verwandelt, sind zu verklärten Harmlosigkeiten oder zu wenig glaubhaften Heldengeschichten geworden. Seit Yves Robert im Jahre 1961 Louis Pergaud's Roman "Krieg der Knöpfe" verfilmte, ist - wie es scheint - jedoch eine nahezu archetypische, zeitlose Gestalt dieses Erzählmusters entstanden, das immer wieder sein Publikum findet und unter Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen beliebt ist. Yves Roberts Film scheint darüber hinaus die hypnotische Fähigkeit zu besitzen, auch das städtische Publikum in jenen tranceartigen Zustand zu versetzen, in dem es sich bereitwillig zu einer Reise in die "verlorene Kindheit auf dem Lande" verführen läßt. Gerade für diesen Film scheint zutreffend, was Colin Ward (1)  in seiner 1978 erschienen Studie "Das Kind in der Stadt" beschreibt: Auch wer nachweislich in der Stadt aufgewachsen ist, erinnert seine Kindheit als "Kindheit auf dem Dorf". Und die Kriege rivalisierender Knabenbanden gehörten schon immer zu diesen Erinnerungen.

Auch in der Erzähltradition des Rheingaus gibt es die Geschichte von einem "Knabenkrieg". Man hat sie dort zwar immer wieder erzählt, aber ganz im Gegensatz zum "Krieg der Knöpfe" hat man sie offensichtlich nie lieben können. Man erwähnt sie pflichtgemäß, weil man damit regionalgeschichtliche Kenntnisse belegen kann oder man verweist auf sie, wenn irgendwo in der Nähe eine Schlägerei unter Jugendlichen stattgefunden hat. Man bringt damit aber nicht mehr zum Ausdruck, als daß es "so etwas schon immer" gegeben hat. Dieser Knabenkrieg hat sich aber tatsächlich abgespielt, genau vor zweihundert Jahren, am Ende des 18. Jahrhunderts, kurz nach der Französischen Revolution und während der Koalitionskriege im Rheinland. Als "Rheingauer Kinderschlacht" ist er in die Anekdotensammlungen und Geschichtsbücher der Region eingegangen. Die jugendlichen Protagonisten hatten ihren Streit allerdings nicht wie bei Pergaud mit Knöpfen und Hosenträgern, sondern mit echten Gewehren ausgetragen. Als Quelle wird ein Jugendbuch aus dem Jahre 1799 (2) überliefert, das jedoch als verschollen gilt. Der geläufige Text, der heute zirkuliert (3), stammt aus einem Jugendbuch des 19. Jahrhunderts. (4).

Dieser Text jedoch hat nichts von jenem Augenzwinkern, den man in Pergaud's Roman findet, nichts von jener Heiterkeit, die man in Dorfgeschichten sucht, und es fehlt ihm auch das kleinste Quentchen jener Sentimentalität, die "Heimatgeschichten" in der Regel das Überleben sichert. Bei aller Liebe zu historischen Ereignissen hat die zweihundertste Wiederkehr auch nicht zu einer "Gedenkveranstaltung" der örtlichen Heimatarchivare geführt. Auch die Schule, in der die Kinder der sich ehemals befehdenden Ortsteile Ober- und Niederwalluf heute gemeinsam unterrichtet werden, hat die Beschäftigung mit diesem nicht ganz einfachen Stück Ortsgeschichte abgelehnt. "Zu gewalttätig" und "nur geeignet, die alten Animositäten zwischen den beiden Ortsteilen wiederzubeleben", gaben die Pädagogen als Gründe an. Nun sind Beispiele, in denen Kinder im Mittelpunkt einer historischen Begebenheit stehen, nicht gerade häufig zu finden. Um so mehr interessiert die Frage, was Pädagogen wie Heimatarchivare gleichermaßen davon abhält, diese Episode zum Anlaß zu nehmen, ein Stück Alltags- und Ortsgeschichte oder gar "Geschichte der Kindheit" zu ergründen. Boten die kriegerischen Umstände der "Franzosenzeit", in der das Ereignis stattgefunden hatte, nicht aktuelle Bezüge und Anknüpfungspunkte zu Themen wie "Kinder im Krieg" oder "Gewaltbereitschaft"?
Auf den ersten Blick, so scheint es, gibt es gute Gründe für diese Abwehr. Der Wortlaut des allgemein zirkulierenden Textes hat weder Lehrern noch Kindern, weder Eltern noch Ortsgeschichtlern etwas anzubieten, das geeignet wäre, Heimatgefühle zu wecken oder Heimatkunde wirkungsvoll zu illustrieren. Nichts reizt zur Identifikation und nichts ist vergnüglich an dieser Geschichte. Auf drängende pädagogische Fragen scheint sie nicht die geringste Antwort bereit zu haben.

Die Umwege einer "Heldengeschichte"

Ausgerechnet die Frage nach dem "pädagogischen Sinn" der scheinbar so gewalttätigen Anekdote ist es, an der sich das Rätsel um diese störrische Geschichte lösen läßt (5). In der Tat handelt es sich bei der "Rheingauer Kinderschlacht" um eine kleine und ursprünglich pädagogisch hochgeschätzte Geschichte, eine "Heldengeschichte" aus der Zeit der Aufklärung. Zuerst jedoch dachte niemand dabei an ein jugendliches Publikum. Ursprünglich war es eine reine Nachricht für Erwachsene, eine Notiz für Zeitungsleser. Und damit sind wir schon mitten in einer ganzen Kette von Geschichten über die Wallufer Knaben, deren letzte Fassung freilich so jämmerlich zugerichtet wurde, daß ihr ursprünglicher Verfasser sich vermutlich über Jahre unglücklich im Grabe drehte. Während alle anderen Versionen verlorengingen, war es nur dieser letzten vergönnt, seit über einem Jahrhundert immer wieder abgedruckt zu werden und immer wieder das gleiche Kopfschütteln auszulösen. Sie ist, so könnte man sagen, wenn nicht eine böswillige, so doch eine bewußte Verfälschung, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand.

Versuchen wir also, dem seltsamen Schicksal der kleinen Episode und ihrem ursprünglichen Sinn auf die Spur zu kommen und den zerrissenen Faden wieder zu knüpfen. Dazu müssen wir uns in die ersten Jahre nach der Französischen Revolution versetzen. Seit 1789, seit dem Sturm auf die Bastille, hat es keine drei Jahre gedauert, bis sich die beiden Nachbarn, Frankreich und Deutschland, gegenseitig den Krieg erklären. Schon im September des Jahres 1792 attackieren die Deutschen ihre Nachbarn bei der Kanonade bei Valmy. Gleich darauf wendet sich aber das Kriegsglück. Im Oktober des gleichen Jahres stehen die Franzosen schon am Rhein und nehmen die Stadt Mainz ohne jeglichen Widerstand. Dort entsteht für kurze Zeit die erste freigewählte demokratische Regierung auf deutschem Boden, die "Mainzer Republik". Doch fortan wird die Region zum "Kriegsschauplatz", ein bisher unbekanntes Wort übrigens, das der alte Goethe in diesen Tagen auf einem Hügel oberhalb von Mainz erfunden haben soll.

Der Rheingau ist in stetigem Wechsel von französischen, preußischen, hessischen und österreichischen Truppen besetzt, die in ebenso stetigem Wechsel die Stadt Mainz belagern oder verteidigen. Das Land um die Stadt, auch der Rheingau, ist Kriegsgebiet und Militärlager zugleich. Und das wird so bleiben bis in den Dezember des Jahres 1797 hinein, wenn die kaiserlichen Truppen Mainz verlassen und die Stadt wie das gesamte linke Rheinufer bis ins Jahr 1815 an Frankreich fällt.

Wie alle Gemeinden leiden auch die benachbarten Dörfer Nieder- und Oberwalluf unter der Knute des Militärs und werden bisweilen sogar von einem französischen "Bourgemestre" namens Vazquain (6) regiert. In schöner Einträchtigkeit bedienen sich Freund und Feind aus der Gemeindekasse, holen aus Küche, Keller und Stall, was selbst den Einwohnern nicht mehr zum Überleben reicht. Kinder und Erwachsene sterben unter Kanonen- und Gewehrkugeln, die über den Rhein abgefeuert werden, und im Februar 1793 muß gar die gesamte Bevölkerung flüchten, weil kein Haus mehr sicher ist.

Auch wenn nicht geschossen wird, ist das Leben im Dorf von den Soldaten bestimmt. Selbst die Knaben im Alter ab sechs Jahren sind seit 1794 in speziellen "Conscriptionslisten" erfaßt (7) und damit als Nachschub für die "Heimatverteidigung" fest eingeplant. Am 27. Oktober 1795 überschwemmt gleich ein Heer von 1.500 Mann österreichischen Soldaten das Dorf und verlangt nach Unterkunft und Nachtmahl. Unter ihrem General, Prinz Hohenlohe-Ingelfingen, wollen sie am nächsten Morgen auf das andere Rheinufer übersetzen, um bei Budenheim den Franzosen in den Rücken zu fallen, die gerade mal nicht im Besitz von Mainz sind, aber einen undurchdringlichen Belagerungsgürtel um die Stadt gelegt haben, um sie zurückzuerobern. Doch weil dieser Entlastungsschlag nicht richtig gelingen will, macht der kaiserliche Generalfeldmarschall und augenblickliche Herr der Stadt Mainz - mit dem schönen französischen Namen Klerfait - einen überraschenden Ausfall und treibt die Franzosen vor sich her bis tief ins Rheinhessische. Während er der Mann der Stunde ist, vom Kaiser gelobt, vom Mainzer Kurfürsten mit einem "Te Deum" geehrt und von den Engländern mit einem goldenen Degen ausgezeichnet wird, halten sich die flüchtenden französischen Soldaten an den Rheinhessischen Bauern schadlos. Wer auch immer siegt, das Leid für die kleinen Leute hört nicht auf.
 

Die erste Version, eine Zeitungsnachricht

Berlin. Zeitung 1796Das ist die Situation und das ist auch der Alltag der Kinder. Trotz dieser Wirrnis und all diesem Elend geht das Leben weiter. Im fernen Berlin jedenfalls, so melden die "Berlinischen Nachrichten" am 23. Februar 1796, scheint der preußische König ganz andere Sorgen zu haben. Auf der Titelseite meldet die Zeitung als erste Nachricht, daß "se. königl. Majestät dem bisherigen Post-Direktor, Herrn Scheffer, wegen seiner vieljährigen, treuen und mit Beifall geleisteten Dienste" den Titel eines "Oberpostdirektors zu konsertieren allergnädigst geruht" haben. Doch dann - immer noch auf der ersten Seite - folgen unter der Rubrik "Vom Rheinstrom" die üblichen Kriegsnachrichten. An diesem Tag kommen sie aus Mannheim, aus Saarbrücken und auch aus dem Rheingau. Und hier taucht sie plötzlich auf, die erste und wohl älteste Nachricht von der "Rheingauer Kinderschlacht". Das Datum, das der Verfasser ihr voranstellt, läßt vermuten, daß sie aus kriegsbedingten Gründen verspätet in Berlin eintraf:

"Rheinstrom, vom 16. Dezember.
Im Rheingau hat sich ein sonderbarer Krieg in Miniatur aufgethan. Die Knaben von Nieder-Walluf führen förmlich Krieg mit den Knaben von Ober-Walluf. Da nun letztere immer den Kürzeren zogen, so nahmen sie jüngst heimlich ihren Eltern die Gewehre weg, schossen unter ihre Feinde, und verwundeten sechs derselben gefährlich. Itzt sucht die Obrigkeit dem Unfug ein Ende zu machen."

Von einem "Unfug" ist da also die Rede, in dem sich der Unfug eines Krieges spiegelt, der schon über Jahre währt und der auch für das Verhalten der Kinder nicht ohne Folgen bleiben konnte. In ihrer Welt sind es die Soldaten, die das Sagen haben, vor denen sich ihre Väter und Mütter ducken müssen. Militärs und Heerführer wie jener General Klerfait mit dem goldenen Degen sind die Helden und die starken Vorbilder.

Wie andere Zeitungsmeldungen wäre auch diese den Weg aller Zeitungen gegangen, vielleicht nach einem nachdenklichen oder auch bestürzten Kopfnicken des einen oder anderen Lesers. Aber jener Korrespondent der "Berlinischen Nachrichten", der die Redaktion gewöhnlich mit Informationen "vom Rheinstrom" versorgte, war offensichtlich ein hartnäckiger, ja nachgerade ein pedantischer Mensch. Nur wenige Tage später, genauer am 24. Februar 1796, liefert er dem Berliner Büro "wie bisher bei allen Aktionen, den umständlicheren Bericht" nach, wie er einleitend vermerkt und damit an seine gewohnte Gründlichkeit erinnert.
 

Die zweite Version, ein Zeitungsartikel

Bei der Redaktion stößt der vergleichsweise ausführliche Text offensichtlich auf ein solches Interesse, daß sie ihn in der Ausgabe vom Donnerstag, den 3. März 1796, auf der zweiten Seite und in voller Länge abdruckt. Hier haben wir die Urfassung jener Episode vor uns, die einmal als "Rheingauer Kinderschlacht" in die Geschichte eingehen wird. Ihr Geheimnis sind einige Formulierungen und Wendungen, deren besonderer Charakter sich dem heutigen Leser nicht auf den ersten Blick erschließen. Aber damals hatte sie zumindest für einen der Leser gewissermaßen elektrisierende Wirkung, wie wir noch sehen werden. Doch lassen wir zunächst den Text der Urfassung sprechen, der - soweit nachprüfbar - seit fast zweihundert Jahren keinem Zeitungsleser mehr in dieser Form unter die Augen kam.

"Rheinstrom, vom 24. Februar
Von der neulich nur kürzlich berührten Knabenschlacht im Rheingau liefern wir heute (wie bisher bei allen Aktionen) den umständlichern Bericht nach.

Die Jugend, die alles nachahmt, hatte in jenem Lande, wo sie schon so lange an Krieg und Schlachten gewöhnt ist, auch auf diese ihre Industrie gerichtet, und sich im Kleinen oft nach Regeln der Taktik die Köpfe wund geschlagen. Dies war an mehrern Orten geschehen, aber das merkwürdigste Beispiel ereignete sich am Ende des abgewichenen Monats zwischen den Knaben von Ober- und Nieder-Walluf, zweier an einander liegender Oerter, die sich in Regimenter mit Offizieren und Generalen organisiert hatten, um Krieg mit einander zu führen.

Die vom ersteren Dorfe, zu schwach, um es mit der überlegenen Anzahl des letzteren im freien Felde aufnehmen zu können, legten zu ihrer Vertheidigung eine Verschanzung an, die zunächst an ihrem Dorfe erbaut, ihnen jedesmal einen sichern Zufluchtsort gewährte, so oft sie von der Uebermacht in die Flucht geschlagen wurden. Der Feldherr der Nieder-Walluffer aber, eines Scheeren-Schleifers-Sohn, ein kühner Junge von 14 Jahren, durstig nach Ruhm und Thaten, und stolz auf die große Anzahl der nicht minder kühnen Jugend, die ihn zum Anführer gewählt hatte, beschloß diesen Tag, den feindlichen Schlupfwinkel, in den sich die geschlagene Armee aufs neue verborgen hatte, sei er auch noch so fest, einmal für allemal mit stürmender Hand zu erobern.

Er sandte zu dem Ende dreimal nach einander einen Trompeter hinein, und ließ sie zur Übergabe auffordern. Dieser Entschluß brachte die schwache Anzahl der Belagerten zu einem verzweifelten Gedanken, den ihnen einige Vorübergehende eingeflößt hatten. Man war von beiden Seiten bis jetzt nur gewohnt, mit Steinen und hölzernen Säbeln zu fechten. Doch, da wahrscheinlich unter diesen Knaben das Völkerrecht noch unbestimmt war, so trugen letztere keine Bedenken, ein schreckliches Mittel zu ihrer Rettung zu wählen. Sie behielten alle 3 Trompeter gefangen zurück, und unter der Zeit liefen ihrer 12 bis 15 nach Hause, die Flinten ihrer Väter herbei zu holen, die gerade damals auf dem Felde abwesend waren.

Sie wurden geladen und so lange verborgen gehalten, bis die Tollkühnheit des feindlichen Feldherrn das Zeichen zum Sturm geben würde. Dieser, aufgebracht über das treulose Verfahren mit seinen Trompetern, beginnt mit stürmender Eile den Angriff. Aber in dem Augenblick, wo er den Verschanzungen sich näherte, schmetterte ein Hagel von Steinen, Schrot und Kugeln unter Krachen und Dampf gegen seine Kolonnen; mehrere fielen zu Boden, viele trieften leicht verwundet von Blut. Der 14jährige Feldherr allein blieb sich gleich, ließ mit der größten Gegenwart des Geistes die Verwundeten zurückbringen, sammelte seine Mannschaft, und stürzte mit aller Wut auf die treulosen Buben in der Schanze los, die sich sogleich im Schrecken über ihren begangenen Fehler aus ihrem Schlupfwinkel durchs Dorf in den benachbarten Wald retirirten. Mit einem Theil seines Heeres ließ nun der Sieger die Flüchtlinge verfolgen, indessen er mit dem übrigen die Ausführung einer noch kühneren That beschloß.

Das ganze feindliche Dorf sollte in Schrecken und Contribution gesetzt werden. Man zog nach dem Hause des Schultheißen und ließ ihn durch Trompeter auffordern. Ein Steinhagel regnete überall, wo man sich widersetzen wollte. Doch ließ man sich endlich von den zahlreich herbei geeilten Männern, theils durch Drohungen, theils durch Versprechungen hinlänglicher Genugthuung zum Rückzug bewegen.

So endigte sich dieser merkwürdige Knabenkrieg, der auf beiden Seiten viele leichte Hiebwunden und Contusionen, den Siegern aber das Unglück zuzog, daß sechse von ihnen von Schrot und Kugeln verwundet darnieder liegen; einem ist die Ferse abgeschossen, und ein anderer ist schwer in der Brust verletzt. Die Sache wurde von den Ortsobrigkeiten zu Protokoll genommen, um von den Richtern untersucht zu werden, damit man diejenigen bestrafe, die den Knaben diesen gefährlichen Entschluß eingeflößt haben."
 

Die dritte Version, oder von der "Gegenwart des Geistes"

Auch diesem Zeitungsbericht wäre das übliche Schicksal nicht erspart geblieben, wäre er nicht auf den Schreibtisch des Johann George Rievethal (1754-1818) in Riga gelangt. Er ist Lehrer für die englische und französische Sprache und versucht wie viele seiner Kollegen die schmalen Einkünfte durch die Herausgabe von Lesebüchern und durch "Correspondenzen" für eben diese Berliner Zeitung aufzubessern. Das lassen jedenfalls die Meldungen unter der Rubrik "Aus Riga" vermuten, die mit steter Regelmäßigkeit dort abgedruckt sind.

Rievethal ist gerade zum "Conrektor" an der Domschule von Riga aufgestiegen, an der wenige Jahre zuvor noch Johann Gottfried Herder (1744-1804) tätig war, bis ihn Goethe nach Weimar lockte. Der Schriftsteller und Lehrer ist vom neuen Geist der freiheitlichen amerikanischen Verfassung angesteckt und gepackt von den Idealen der Französischen Revolution. Gerade ist er dabei, den zweiten Band seines "Lukumon" zusammenzustellen, der 1799 erscheinen wird. Es ist eine für die Aufklärungszeit typische Geschichtensammlungen "zur Titel:Lukumon 1799Belehrung und Unterhaltung". Darin sammelt er "Nachrichten von ausserordentlichen Menschen in physischer und psychologischer Rücksicht, imgleichen Merkwürdigkeiten aus der Natur- und Kunst-Geschichte, Länder- und Völkerkunde", wie der Titel in hinreißender Vollständigkeit lautet. Erklärtes Ziel des Buches ist es, "Junge Leute auf die Dinge in der Welt aufmerksam zu machen, ihre Wissbegierde zu reizen, und ihren Verstand mit nützlichen Sachkenntnissen zu nähren", wie der Autor im Vorwort zum ersten Band von 1796 schreibt.

Seine Leidenschaft sind Geschichten aus der Wirklichkeit, die das Zeug haben, den Leser klug und "aufgeklärt" zu machen. Wahr sollen sie sein und nicht erfunden, denn mit erfundenen Geschichten, so weiß er, kann man alles beweisen. Wenn man seine Bearbeitungen mit seinen Quellen vergleicht, erweist sich Rievethal als außerordentlich seriöser und ernstzunehmender Bearbeiter. Nie fügt er den Geschichten eigens eine Moral an. Er will, daß sich der Leser sein Urteil selbständig bildetet. Darauf vertraut er. Sein Prinzip ist die Ermutigung und er zieht sie der moralischen Ermahnung allemal vor.

Neben naturwissenschaftlichen und historischen Stücken hegt Rievethal eine besondere Vorliebe für "Einfälle, die durch Originalität, Witz und Scharfsinn merkwürdig sind". So jedenfalls ist wiederkehrend eines der umfangreichsten Kapitel in dem später dreibändigen "Lukumon" überschrieben. "Witz" bedeutet im barocken Denk- und Sprachgebrauch noch so viel wie Überschuß an Geist und Geistesgegenwart. Schon im Titel für seine Sammlung zielt er auf eine neue Deutung des Begriffes "Adel", einem Wort, das für seine Zeitgenossen und Geistesverwandten zugleich für Ungleichheit, Privilegien und Anmaßung steht. Rievethal plädiert für einen "neuen Adel des Geistes", und mit dem geheimnisvollen Titel "Lukumon" erinnert er an das hochentwickelte Volk der Etrurier, die ihre freigewählten Repräsentanten "Edle" oder "Lucumonen" nannten.

Einer der Begriffe, der in seinen Geschichten eine zentrale Rolle spielt, ist das Wort von der "Gegenwart des Geistes". Gemeint ist jene, von den Aufklärern so geschätzte Fähigkeit des Menschen, die ihn trotz emotionaler Überwältigung in die Lage versetzt, die Relationen, das Verhältnis der unterschiedlichen Aspekte einer Situation, den Blick aufs Ganze, nicht aus den Augen zu verlieren. Vernunftgemäß zu handeln ist nicht gleichbedeutend mit Leidenschaftslosigkeit, so lautet die These. "Geistesgegenwart" jedoch, selbst in der größten emotionalen Verstrickung, steht für jenen neuen, aufgeklärten und "innengeleiteten" Menschen, der dem Charakter seiner Gattung gerecht wird, dessen Geist stets wach ist und dessen Wut beispielsweise nie zur "blinden Wut" wird.

Genau dieser Begriff ist es wohl, der den damals 45jährigen Pädagogen aus Riga bei der Zeitungslektüre hat aufmerken lassen. Im Bericht über den Rheingauer Knabenkrieg findet er ihn an exponierter Stelle. Aber neben dem Wort von der "Gegenwart des Geistes" stößt er auch auf andere Formulierungen, die seiner Überzeugung von den "angeborenen" demokratischen Kompetenzen im einfachen Volke entsprechen. Er ist fest davon überzeugt, daß sie schon im jungen Menschen natürlich angelegt sind und nur auf ihre Entfaltung warten. Und genau dafür findet er Zeugnisse in diesem Zeitungsbericht. Da ist nämlich von einem jugendlichen Anführer die Rede, der "kühn" und stolz ist aus ganz anderen Gründen als die Kriegsherren seiner Zeit. Diese sind es, weil sie ihr Amt "von Gottes" oder "Kaisers Gnaden" haben. Jener ist es, weil seine Kühnheit aus einem ganz besonderen, einem demokratischen Stolz gespeist wird. Er nämlich ist "stolz auf die große Anzahl der nicht minder kühnen Jugend, die ihn zum Anführer gewählt hatte".

Weil er die "Nachrichten aus der Wirklichkeit" nie zu glätten versucht, ihre Widersprüche nicht zugunsten pädagogischer Eindeutigkeit unterschlägt, konzentriert Rievethal sich stets auf die hoffnungsvollen Ansätze, die sich in einer Geschichte verbergen, gewissermaßen den utopischen Anteil im Realen. Und so ist es dem Rigaer Lehrer auch sympathisch, daß der aufgeklärte Zeitungsschreiber sogar Verständnis für die Oberwallufer Knaben zeigt und eine Entschuldigung für sie bereithält. Die Tatsache, daß diese den "diplomatischen" Status der Emissäre aus Niederwalluf nicht respektieren, sondern deren Trompeter gefangennehmen und ihre vergleichsweise unbewaffneten Gegner schließlich gar mit echten Gewehren überraschen, führt der Berichterstatter darauf zurück, daß "wahrscheinlich unter diesen Knaben das Völkerrecht noch unbestimmt war". Auch hier zeigt er sich dem Autor Rievethal geistesverwandt. Er lenkt den Blick von der fraglos gewalttätigen Szene auf die Lernfähigkeit der Knaben, die noch während des Gefechtes die Tat bereuen und sich "in Schrecken über ihren begangenen Fehler" zurückziehen. Ohnedies waren es "einige Vorübergehende", die ihnen diesen "verzweifelten Gedanken eingeflößt" hatten, wie es im Text heißt.

Auf einen kurzen Nenner gebracht: Rievethal nimmt die Geschichte in seine Sammlung auf, weil sie in seinen Augen optimistische Züge trägt. Da gibt es zwei benachbarte Gemeinden, die - wie tausend andere auch - seit Generationen miteinander im Streit liegen. Abneigung und Feinseligkeit unter den Erwachsenen sind den Kindern schon mit der Muttermilch eingegangen. Und während um sie her ein wirklicher Krieg zwischen "Erbfeinden" tobt, führen sie mit stillschweigendem oder offenem Einverständnis der Alten zwischen ihren Dörfern gewissermaßen Krieg in Stellvertretung. Dabei ahmen sie vor allem jene nach, die augenscheinlich die Starken und die Helden sind, die Soldaten und Heerführer.

Und doch ist etwas anders. Einer ihrer Führer ist demokratisch gewählt. Er ist "geistesgegenwärtig" und nicht blind vor Wut, bei ihm hat die Rettung und Versorgung der Verwundeten Vorrang. Und auf der Gegenseite? Auch da ist etwas anders als im Krieg der Erwachsenen. Die Verteidiger sind "erschreckt über ihren begangenen Fehler", und das obwohl ihnen das neue "Völkerrecht" noch unbekannt ist. Ein "Recht" übrigens, das unter den Völkern noch ganz und gar nicht zum Standard gehörte.

Also doch eher ein erhellendes Lehrbeispiel für erwachsene Leser? Der Journalist "Vom Rheinstrom" hatte dies vermutlich im Sinn. Aber Rievethal traut es auch seinen jugendlichen Lesern zu, die er für klug und wach genug hält, die fein verpackte Nachricht entschlüsseln zu können.

In Rievethals Augen gibt die Geschichte der Hoffnung Raum, daß Kinder - auch wenn sie von einer Welt der Gewalt umstellt sind - sehr wohl in der Lage sind, Format und "Geistesgegenwart" zu entwickeln, daß sie fähig sind, die Nachahmung von Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit, die sie in der Welt der Erwachsenen sehen, als Irrweg zu erkennen. Deshalb plaziert er die Episode an einer exponiert politischen Stelle seines Buchs. Er stellt sie zwischen eine Geschichte über den Tod Gustav Adolfs und eine Episode, in der die Fortschrittlichkeit des englischen Schwurgerichtprozesses dargestellt wird, einer Rechtspraxis, von der man in Deutschland noch ein halbes Jahrhundert entfernt ist. Hauptthema all dieser Geschichten ist immer wieder die "Gegenwart des Geistes".

Gerade weil er diese Geschichte so vorfindet, wie sie ist und nicht allein aus Respekt vor seiner Quelle, nimmt er sie in sein Buch nahezu unverändert auf. Der Untertitel, "Eine Scene aus dem letzten Kriege", ist der einzige diskrete Deutungshinweis. Wo der Schlußsatz seiner Quelle von einer möglichen "Untersuchung" spricht, geht er davon aus, daß sie auch wirklich stattgefunden hat. Doch ein solches aktenmäßiges Verfahren hat sich bisher nicht nachweisen lassen und ist wegen der Kriegsumstände vermutlich auch nicht durchgeführt worden. Weil der Zeitungsartikel unter dem 24. Februar 1796 datiert ist, und wohl in Unkenntnis der kurzen Notiz vom 16. Dezember 1795, deutet Rievethal die Wendung "am Ende des abgewichenen Monats", als den Januar des gleichen Jahres. Fortan gilt sein Buch als die Quelle für die "Rheingauer Kinderschlacht von 1796", die allerdings schon im Vorjahr stattgefunden hat.
 

Die vierte Version oder von der "Geistesgegenwart" zum Geist des Untertanen

Kaum fünfzig Jahre später, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, haben sich die Verhältnisse und der Zeitgeist nachhaltig gewandelt. Nach den Napoleonischen Kriegen und der Revolution von 1848 hat die Restauration das Wort. Neben nationalen Gefühlswallungen und der zweiten Welle der Rheinromantik herrscht ein abgründiger pädagogischer Pessimismus. Kinder sind von Natur aus wilde und zur Schlechtigkeit neigende Kreaturen, die mit allen Mitteln erzogen, also gezähmt werden müssen. Und dazu verwendet man vor allem den Rohrstock und moralische Geschichten.

Im Jahre 1857 machen sich einige Lehrer und Pfarrer im Großvateralter daran, erneut eine Geschichtensammlung zur "Belehrung der Jugend" herauszubringen, der sie den bezeichnenden Titel "Des Knaben Lust und Lehre" geben. Einem der Autoren fällt das schon damals selten gewordene "Lukumon" in die Hände. Christian Heinrich Zimmermann aus Ilmenau macht sich daran, die Rievethalsche Vorlage von der "Rheingauer Kinderschlacht" ganz im Sinne des neuen Zeitgeistes zu bearbeiten. Dabei wird er mit dem Geist der Geschichte so gründlich aufräumen, daß nur noch das Gerippe übrig bleibt.

Vergleicht man einige seiner Beiträge mit dem jeweiligen Original, liegt das Prinzip seiner Bearbeitung sehr schnell offen. Wo die Vorlage lakonisch, sachlich erzählt, erfährt der Zimmermannsche Text durch gefühlsbetonte Wortwahl eine künstliche dramatische Aufladung. Im Falle der "Rheingauer Kinderschlacht" wird aus einem "Heer" der Knaben jetzt ein "wilder Heereshaufen" oder ein "wütender Haufen", aus dem Ende "dieser merkwürdigen Knabenexpedition" werden "die traurigsten Folgen dieser Verirrung". Aus der "Sache" wird "der tragische Vorfall" und aus einer Bestrafung wird eine "harte" Bestrafung und so fort.

Das zweite Charakteristikum der Zimmermannschen Bearbeitung hat für den Geist der Vorlage weit schwerwiegendere Folgen. Mit traumwandlerischer Sicherheit unterschlägt er all jene Schlüsselsätze, die Rievethals Neugier bei der ersten Lektüre des Zeitungsberichtes geweckt hatten. All das, was ihn bewogen hatte, diese Geschichte an exponierter Stelle in sein "Lukumon" aufzunehmen, wird ausgemerzt.

Der Niederwallufer bleibt zwar noch "kühn". Da aber die feinsinnige Begründung fehlt, gerät der Anführer jetzt zum affektgeladener Wüterich, zum Barbaren. Zusammen mit den anderen gravierenden Auslassungen, rückt Zimmermann nicht nur die Kinder in schlechteres Licht. Sein Ziel ist eine Art volkspädagogischer Rundumschlag, der auch die Erwachsenen treffen soll. Nach der Originalversion konnten sich die Oberwallufer Kinder die Flinten ihrer Väter beschaffen, weil "die gerade damals auf dem Felde abwesend waren". Bei Zimmermann sind die Väter ohne jegliche Begründung "abwesend". Auf dem Hintergrund der nun herrschenden Erziehungsvorstellungen sehen sie sich jetzt dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Kinder nicht unter gehöriger Kontrolle zu haben. Nicht die Wirklichkeit bäuerlichen Lebens in schwierigen Kriegszuständen ist für den Bearbeiter von Interesse, sondern eine moraltaugliche Konstellation der Geschichte.

Zimmermann hat kein wirkliches Interesse an den Personen und am historischen Zusammenhang. Ziel seiner Geschichte ist die große Bestrafungsaktion am Ende, die alle trifft. Wo Rievethal die Geschichte sachlich ausklingen läßt, kommt bei Zimmermann die "Moral von der Geschicht". Nur ihretwegen wird sie erzählt. Sie berichtet jetzt nicht mehr von geistiger Wachheit und moralischer Sensibilität junger Menschen mitten im Krieg. Ihr geht es allein darum, am Beispiel ungezogener Knaben und leichtfertiger Eltern zu demonstrieren, wie dringlich es ist, daß die Obrigkeit das einfache und ungebildete Volk immer wieder zur Ordnung ruft: "Der tragische Vorfall wurde von der Obrigkeiten zur Anzeige gebracht, von den Richten streng untersucht und hart bestraft. Besonders mußten die Erwachsenen, welche den Ober-Wallufern jenen gefährlichen Gedanken eingeflößt hatten, sich mit dem Feuergewehr zu vertheidigen, schwer büßen".
 

Wenn die Moral wie ein Fallbeil funktioniert

Zimmermanns liebste Tugenden sind die Tugenden des Untertans, Ordnung und Gehorsam. "Geistesgegenwart" und "Witz" müssen ihm als Dreistigkeit erscheinen. Also entfernt er all die chanchierenden Teile der Erzählung, welche die Bildung eines voreiligen, eines zu schnellen Urteils verhindern oder zumindest irritieren wollten. Er räumt all die gezielt und subtil ausgelegten Stolpersteine aus dem Weg, die zu genauem Hinhören und Hinsehen herausfordern. Um die nötige psychologische Fallhöhe zu erreichen, um die Wucht seiner Geschichte zu vergrößern, damit sie den Leser unzweifelhaft auf die vorherbestimmte Bahn seines Urteils lenke, heizt er an, steigert die Dramatik und unterschlägt alles, was dabei auch nur im geringsten stören könnte. Er ist nicht an Erkenntnis interessiert, ihn interessiert die Verurteilung.

Damit hat sich nicht nur der Inhalt sondern auch die literarische Qualität des Textes fundamental verändert. Walter Benjamin (8) nennt beispielsweise als zentrales Kennzeichen einer guten Erzählung, daß sie nicht einfach "etwas" oder "jemanden" dem Leser "näher" bringt, sondern "in einen gewissen Abstand". Sie schafft damit einen Raum zwischen dem Erzählten und dem Leser, in dem dieser das Maß seiner Annäherung jeweils selbst und jeweils neu bestimmen kann. Diese Mischung von Bestimmtem und Unbestimmtem, von Sich-selbst-Erklärendem und Frag-würdigem ist es, die dem Leser in der Berührungszone von Bewußtheit und Unbewußtheit (9) eigene Wahrnehmungen zugesteht.

Die Kunst der poetischen "Vieldeutigkeit" ist es, durch die eine Erzählung mit jenem Potential ausgestattet wird, das dem Leser im Lauf der sich wandelnden Zeiten immer wieder und auch immer neue Entdeckungen möglich macht. Zimmermanns Variante jedoch ist tödlich eindeutig. Im Gegensatz zu ihrer Vorlage ist sie unzugänglich geworden. Ihre Eindimensionalität kommt nicht allein aus der Eindimensionalität ihrer Erziehungsmoral, nicht nur aus den Unterschlagungen, aus den sentimentalen sprachlichen Verfälschungen. Sie entsteht vor allem aus der dem Leser aufgezwungenen Nähe, die keine persönliche Aneignung mehr zuläßt.

Rievethal war von dem wachen Geist jenes anonym gebliebenen Journalisten "vom Rheinstrom" fasziniert, weil dieser dem Ereignis trotz aller Gewalttätigkeit einen Funken von Hoffnung, eine Ermutigung zu entlocken vermochte. Weil er seiner Geschichte eine tiefere Ebene einzog, wurden die erregten Kinder von damals über alle Zeiten hinweg zu lebendigen Menschen, an die sich Hoffnung auf Veränderung, auf Besserung knüpft.

Ohne diesen "Geist" erscheint die Variante Zimmermanns nur mehr als tote Kulisse zu einem Stück, das nicht mehr gespielt wird. Ohne wirkliches Interesse an den Protagonisten seiner Geschichte macht er den vergeblichen Versuch, mit der Gewalt vor der Gewalt zu warnen. Aber seine Geschichte bleibt stumm, weil sie, wie andere Geschichten von "Kinder-Kriegen", die bisweilen weitaus gewaltsamer waren, neben der Gewalttätigkeit des Ereignisses der Konstellation der beteiligten Personen nichts Erhellendes abzugewinnen vermag. Solche Geschichten widerstehen der Erinnerung und verfallen in der Regel dem Vergessen, weil sie "dem Leser keinen Rat wissen", wie Walter Benjamin sagt.

Als Beispiel sei jene "Kinderschlacht von Rödert" angeführt - einem Weiler bei Miehlen, zwischen Wisper und Lahn gelegen - die in den gleichen Tagen niedergeschrieben wurde wie unsere Urfassung. Sie erschien am 7. März 1796 in der "Privilegirten Mainzer Zeitung" und ist als historische Begebenheit vermutlich ebenso real wie der "Wallufer Knabenkrieg":

"Rödert, ohnweit Singhofen, vom 18. Febr. In unseren Gegenden herrschen schon seit langer Zeit zwischen den Knaben beständige Kriegsspiele, wobei es schon oft blutige Köpfe absetzte. Am 18. Febr. aber sich ein Unglück zutrug, welches zur Warnung des ganzen Publikums bekannt gemacht zu werden verdient:

Die Knaben zu Rödert und Bettendorf, welche sich seit einigen Wochen beständig und oft blutrünstig herumschlugen, trotz dem Verbot ihrer Eltern und Vorgesetzten, versammelten sich an genanntem Tage an den beiden Ufern des kleinen Flüßchens Wisper, wo sie beständig aufeinander schimpften, und mit Steinen warfen. An der Brücke, wo die Mühlbach an die Wisper fällt, hatten sie ordentlich ihre Posten ausgestellt, und wurden auf dieser Brücke, als die eine Parthie herüber wollte, handgemein.
Das Gedränge aber ward nun hier so groß, daß das Brückengeländer ausbrach, wodurch etliche 20 dieser unglücklichen Kinder herabfielen, wovon wirklich 7 ertranken, und die übrigen so beschädigt wurden, daß sie, von denen noch 2 nachher gestorben, in den Händen des Wundarztes sind."

Auch dieser Geschichte fehlt es an allem, was wirkliche Neugier befriedigen könnte. Von "Geistesgegenwart" nicht die Spur. Blind auf das gewalttätige Ereignis fixiert, bleiben die handelnden Personen im Dunkeln. Auch diese Geschichte hält dem Leser die Moral entgegen wie ein stumpf gewordenes Fallbeil. Weil ihr jeglicher "Witz" fehlt, weil sie an keiner Stelle über das blanke Geschehen hinausweist, löst sie das gleiche verständnislose Schulterzucken aus, wie das die Zimmermannsche Variante der "Rheingauer Kinderschlacht" heute noch tut. Aus diesem Grund wird man die "Kinderschlacht von Rödert" in einer Chronik von Miehlen oder in einer Anekdotensammlung der Region vergebens suchen. Für die Überlieferungsgeschichte des "Rheingauer Knabenkrieges" bleibt zu hoffen, daß die Version des hellwachen Journalisten "vom Rheinstrom" wieder in Umlauf kommt. Seine Kunst bestand darin, den täglichen Katastrophenmeldungen mehr als nur eine weitere hinzuzufügen.

Anmerkungen

 (1) Colin Ward: Das Kind in der Stadt, Frankfurt 1978.
 (2) Johann George Ri(e)vethal: Lukumon oder Nachrichten von außerordentlichen Menschen in physischer und psychologischer Rücksicht imgleichen Merkwürdigkeiten aus der Natur- und Kunst-Geschichte, Länder- und Völkerkunde zur Belehrung und Unterhaltung, 3 Bde., Riga/Leipzig 1796-1802.
 (3) Otto E. Fink: Damals im Rheingau, Wiesbaden o. J., S. 142; auch in: Niederwalluf 770-1970, Beiträge zur Ortsgeschichte, Niederwalluf, 1970, S. 145.
 (4) Des Knaben Lust und Lehre. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Knaben im Alter von 10 bis 16 Jahren, 2Bde., Glogau 1857/58.
 (5) Elmar M. Lorey: Die Rheingauer Kinderschlacht von 1795. Über eine Wallufer Episode aus der Franzosenzeit und ihre bisher unbekannte Urfassung. Privatdruck, Walluf 1991
 (6) Wallufer Heimatarchiv, 629/1794.
 (7) ebd. 613/1794.
 (8) Walter Benjamin: Illuminationen, Frankfurt 1969, S. 409 ff..
 (9) Alexander Mitscherlich: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, S. 102.

© 2001 Elmar M. Lorey



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