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Agrest - Verjus

Zum bisher ältesten „Erzeugernachweis“ aus dem Jahr 1225
© Elmar M. Lorey 2009

Auch im Weinjahr 2009 eilten Winzer bereits im August wieder in die Weinberge, um lange vor der Lese unreife Trauben abzuschneiden und auf die heimische Kelter zu bringen. Vor zwei Jahren ernteten die ersten dafür noch mitleidiges Gelächter. In diesem Jahr waren es bereits mehrere Dutzend Weingüter, die ihren „Verjus“, wie sie ihn meist nennen, geerntet und abgefüllt haben. Fast alle deutschen Weinbaugebiete sind mittlerweile vertreten und unter dem Beifall prominenter Vertreter aus Wein- und Gourmetszene schwärmen die Feinschmecker-Journale von der „edlen Würze“. Wollte man der Stuttgarter Zeitung glauben, die das Auftauchen des „Verjus“ mit der fast zweideutigen Überschrift „Die Maggi-Flasche der Gourmets“ kommentierte, könnte man gar versucht sein, an einen Marketing-Gag französischer Küchengötter glauben.

Weit gefehlt.
Die Winzer knüpfen hier an eine alte Weinbautradition an. Und das älteste Zeugnis dafür wurde im Rheingau entdeckt.

Kloster Eberbach/ Kupfer von Merian
Kloster Eberbach im Rheingau

Dass die unreifen grünen Trauben nicht nur in den mittelalterlichen Kochbuchhandschriften als Würze gelobt und in den Arzneibüchern als Heilmittel gepriesen, sondern von Winzern auch tatsächlich geerntet wurden, bezeugt ein Dokument aus dem reichen Bestand des Zisterzienserklosters Eberbach. Es ist der bisher früheste „Erzeugernachweis“, der für die deutschen Weinbaugebiete bekannt geworden ist.

Urkunde von 1225
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Urkunde von 1225 *
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 22,U87
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Um was geht es?
Die Urkunde stammt aus dem Jahr 1225 und behandelt den Kauf eines Weinbergs, der heute zum berühmten „Steinberg“ gehört, dem „Lieblingsweinberg“ der Mönche, den sie seit 1170 allmählich auf die stattliche Größe von heute rund 34 Hektar erweiterten und zum Schutz vor Dieben mit einer rund 3 Km langen Mauer umgaben. Nach den Angaben der Urkunde handelte es sich um etwa einen Morgen Rebland am süd-westlichen Zipfel, hinter dem Klostergut "Neuhof" (
am rechten Bildrand).

Der Steinberg
Der "Steinberg", gelegen zwischen Hattenheim und Kloster Eberbach

Der eigentliche Clou des Kaufvertrages, verbirgt sich jedoch in einer Vereinbarung, die dem Dokument einige Zeit später angefügt wurde. Man hielt sie offensichtlich für so wichtig, dass sie eigens mit dem Klostersiegel bekräftigt wurde. Der damalige Abt Erkenbert, der von 1222 bis 1227 dem Kloster vorstand, bestätigt darin die Selbstverpflichtung des Konventes, aus diesem Weinberg jährlich nicht nur „ein Fuder Wein für die Armen“ (rund 900 Liter) bereitzustellen....

Ausschnitt aus der Urkunde von 1225
Der spätere Zusatz am Ende des Kaufvertrages,
in dem unter anderem die jährliche Ernte der Agrest-Beeren vereinbart ist

„Darüberhinaus“, so fährt der lateinische Text der Urkunde fort, „sollen in diesem Weinberg noch vor der Weinlese (...) auch die frühreifen Trauben (uvae praecoquae) für die Kranken des Hospitals gelesen werden.“
Damit kann als belegt gelten, dass im Kloster nach dem Vorbild der antiken Ärzte unreife Trauben geerntet und der abgepresste Saft beispielsweise zur Wundbehandlung verwendet wurde. Mit Zucker konserviert, verabreichte man ihn den Kranken auch als fiebersenkenden Sirup und der Saft wie die frischen Beeren dienten in der Küche als Würzmittel und als appetitanregende Zutat für die Krankenkost. Diese Praxis verbreitete sich schnell und das erste deutsche gedruckte Kochbuch von 1485 schwärmte von der „lieblichen Säure“ des „Agrest“, wie er hierzulande genannt wurde.

Agrest oder Verjus?
Doch die Geschichte des Agrest oder „Agraz“ ist eine
„vergessene Geschichte“ (mehr dazu hier...) Mit dem starken Einfluss der Französischen Küche, die im 17. Jahrhundert und nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges einsetzt, verschwand das Wort Agrest allmählich zugunsten des französischen „Verjus“. Wer noch heute eine Lehre als Koch in der „Haute Cuisine“ absolviert, lernt selbstverständlich statt Agrest den Verjus kennen, der in der gehobenen Gastronomie und in der regionalen Küche im französischen Südwesten nie ganz verschwunden war. Hier knüpfen auch die deutschen Winzer an, die ihre Wiederentdeckung in der Regel als „Verjus“ anbieten, auch wenn sie ihren Kunden die französische Aussprache „Werschüü“ meist erst erklären müssen. Der französische „jus vert“, der „grüne Saft“ wird freilich erst in einer Handschrift aus dem Jahre 1273 erstmalig erwähnt. Da lag der „erste Erzeugernachweis“ bereits 50 Jahre in dem Rheingauer Klosterarchiv.

Der älteste bisher bekannt gewordene "Erzeugernachweis" für den Verjus findet sich in einem Pachtvertrag des Winzers Thibaul Stassionoire aus dem Jahre 1392, der für fünf Jahre einen Weinberg der Grafen von Namur bewirtschaftete. **) Seine Pachtleistungen schlossen neben den üblichen Weinbergsarbeiten und der halben Ernte jeweils auch die Lieferung von „six stiers de sel pour saler le verjus“ ein (sechs Maß Salz zum Salzen des Verjus). Mit dieser Methode wurde der leicht verderbliche Saft bis ins 18. Jahrhundert als Würzmittel für die Küche konserviert.
Die Verwendung als würzende Zutat in der Küche ist allerdings schon in früheren französischen Handschriften belegt, etwa dem "Viandier", das um 1273 niedergeschrieben wurde. Während des „Avignoner Exils“ (1305-1376) beispielsweise, als die Päpste in der südfranzösischen Stadt im Rhonetal residierten, finden sich Belege, dass unter Johannes XXII. (1316-1334) die Hofküche den „agresta“ gleich fassweise im provenzalischen Umland ankaufte. Sein Nachfolger, Clemens VI. (1342-1352), wie sein Vorgänger gleichfalls ein Franzose, ging die Sache übrigens noch entschiedener an. Er kaufte gleich die gesamte Grafschaft Avignon mit ihrem umfangreichen Weinbergsbestand auf und ließ fortan den an seinem Hof in so großen Mengen benötigen „agresta“ gleich vom eignen Küchenamt herstellen. ***) Die große Kariere des Saftes aus "unzeitigen Beeren" beginnt dann im 15. Jahrhundert und er wird als Würz- und Heilmittel überall in Europa gebräuchlich.

Ein Dokument mit Hintersinn
Doch zurück zu unserem Rheingauer Zisterzienserkloster: Das alte Eberbacher Pergament, das auf den ersten Blick als harmlose Kaufurkunde daher kommt, hält jedoch noch eine Geschichte hinter der Geschichte parat. Liest man den angefügten Zusatz bis zu seinem Ende, so erzählt er nämlich von einem Aufstand, zumindest von einer kleinen Revolte im Kloster, deren Erfolg der Abt vermutlich nur mit zusammen gebissenen Zähnen besiegelte. Um was ging es?

Seit dem Kauf im Jahr 1225 war besagter Weinberg dem gerade erst fertig gestellten Hospital und der Versorgung der Kranken und Armen vorbehalten. Offensichtlich hatte man die dafür zuständigen "Hospitalbrüder" Heinrich und Herweg, wie auch die beiden Konversen (Laienbrüder) Gisselbert und Adolf, die in dem Dokument eigens genannt werden, schon bald nach dem Kauf unter Druck gesetzt, auf diesen Weinbergsteil zugunsten des Konvents und seiner wirtschaftlichen Interessen zu verzichten. Abt Erkenbert, der unter seinem Vorgänger Abt Theobald bereits das Amt des Cellerars, des Finanzverwalters und Kellermeisters, bekleidet hatte, gehörte also schon vor seiner Abtskarriere zum einflussreichen Leitungsgremium, das stets auch die wirtschaftlichen Interessen des Klosters im Blick hatte. Er steuerte den Handel mit den Klosterweinen, den das größte Wirtschaftsunternehmen der damaligen Zeit vor allem über seine Kölner Niederlassung abwickelte. Das mächtige Kloster war zu Anfang des 13. Jahrhunderts in mehr als 200 Orten des Mittelrheingebietes reich begütert und verfügte über einen Konvent von mehr als 100 Mönchen und 200 Konversen. Diese Laienbrüder, die meist aus ärmlichen Verhältnissen kamen und im Wesentlichen für die Bewirtschaftung der Güter zuständig waren, führten ein vergleichsweise karges Leben. Sie hatten wenige Rechte und kaum Einfluss auf die Entscheidungen des Klosters und seine Leitung, was in dieser Epoche nicht selten zu Spannungen und Konflikten führte, bei denen auch schon mal ein Klostervorsteher von aufmüpfigen Laienbrüdern gemeuchelt wurde, wie das beispielsweise dem Abt Werner im Jahre 1261 widerfuhr.

Der Weinhandel war jedenfalls eine der wichtigsten Einnahmequellen und trug zum weiteren Wachstum des Klosters bei. Und für die hervorragenden Weine aus dem „Steinberg“ waren die besten Preise zu erzielen. Man darf also getrost vermuten, dass Erkenbert auch in seiner neuen Rolle als Abt diesem Ziel weiter treu geblieben ist. Sehr bald nach dem Kauf hat man offenbar versucht, diesen dem Hospital vorbehaltenen Weinberg dem großen und gewinnbringenden „Steinberg“ einzuverleiben, was allerdings nur zum Teil gelang. Der Konflikt zwischen dem „sozialen“ und dem „Wirtschaftsflügel“ des klösterlichen Unternehmens, wie man ihn nennen könnte, endete nämlich mit dem oben genannten Kompromiss. Die vier hartnäckigen Hospitalbrüder hatten einfach nicht nachgegeben und zumindest einen Teilerfolg erzielt. Und sie hatten darauf gedrungen, dass das auch in der Urkunde festgeschrieben wurde:

„In der Absicht also die Unterstützung der Armen (und Kranken) zu verbessern, damit sie im Laufe der Zeit keine Nachteile in Folge der Übertragung (dieses Weinbergs) auf den Konvent erleiden, bestätigen wir entsprechend der Bitte (der oben namentlich genannten vier Brüder) die vorliegende Urkunde zum Beweiß für den geschlossenen Vertrag mit dem Anheften des Klostersiegels.“

Damit hatten die vier widerständigen Hospitalbrüder nicht nur einen Teil der Ernte für die Armen und die Kranken ihres Hospitals gerettet - das irgendwann dann doch zum Weinkeller umfunktioniert wurde. Das Dokument garantierte vor allem das Recht, auch weiterhin vor der herbstlichen Lese die „grünen Beeren“ aus dem „Steinberg“ abzuzweigen, aus denen in enger Zusammenarbeit von Apotheken-, Keller- und Küchenbrüdern dann der Kloster-Agrest hergestellt wurde.

Heinrich
und Herwig, Gisselbert und Adolf sind damit die ersten deutschen Winzer einer Agresternte, die auch namentlich bekannt geworden sind. Zugleich erwiesen sie sich als bibelfeste Christen und handelten getreu nach Moses Auftrag: Als der nämlich die Kundschafter in das neue gelobte Land Kanaa schickte, hatte er ihnen mit auf den Weg gegeben: „Habt Mut und bringt die Früchte des Landes mit“. Und die alte Vulgata-Bibel (Num. 13,20) fügt als Erklärung hinzu: „Es war nämlich gerade die Zeit der frühen Trauben, der uvae praecoquae“, was man gewissermaßen als den ältesten "Ernteauftrag" bezeichnen könnte. Aus heutiger Sicht sind sie damit die Begründer einer sozialen wie auch einer kulinarischen Tradition, die es im Rheingau wieder zu entdecken gilt.

Dem heutigen Besitzer des „Steinbergs“ ist damit der besondere historische Anlass geboten, an dieser Tradition anzuknüpfen. Wie wäre es mit einer jährlichen Agresternte des „Hessischen Staatsweinguts“ (das sich so gerne auch als "Klosterweingut" präsentiert) in Erinnerung an die vier sozial wie kulinarisch so engagierten Klosterbrüder? Verbunden vielleicht mit einer zu ihren Ehren abgehaltenen großzügigen öffentlichen Probeverkostung, vielleicht auch für neugierige Köche aus sozialen Einrichtungen der Region? Das könnte - auch ohne Fernsehköche - zu einer Attraktion werden.

Codex Pal.germ 339  um 1220Nur beiläufig sei noch angemerkt, dass das älteste schriftliche Zeugnis für die kulinarische Qualität des Agrestes aus derselben Zeit stammt. In seinem „Parzival“ erwähnt Wolfram von Eschenbach den „Agraz“ unter den Würzsaucen eines festlichen Mahles am Hofe des Gralskönigs Anfortas. Niedergeschrieben hat der aus dem Odenwald stammende Dichter sein großes Epos im gleichen Jahrzehnt wie die oben genannte Eberbacher Urkunde von 1225. Verwundern muss uns das nicht weiter, gehörte der Odenwald doch einstmals zum Rheingau.

*) (Abt. 22, U 87) Mit freundlicher Genehmigung des Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; AZ 4.3.4
Druckausgaben: Rossel, UB Eberbach 1, Nr. 140 S. 249 f.; Sauer, Nass. UB. 1, Nr. 406 S. 279 (Teildruck); Meyer zu Ermgassen, Oc. Mem. 1, Verzeichnis Nr. 184 S. 48
**) Joseph Halkin: Étude à l'histoire de la viticulture en Belgique, 1895, Ndr. Bruxelles 2005, S.79.
***) Stefan Weiß: Die Versorgung des päpstlichen Hofes in Avignon mit Lebensmitteln (1316-1378): Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eines mittelalterlichen Hofes. Berlin 2002, S. 216-298

 


© Elmar M. Lorey 2018


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